Die Stimme des Wirbelwinds
viele hatten überlebt? Eine Handvoll, sagten die Berichte, und es waren keine Namen angegeben.
Das war Jahre her. Die anderen Überlebenden würden Zeit gehabt haben, zu vergessen, sich ein neues Leben aufzubauen und noch einmal von vorn anzufangen.
Alle außer Steward, dessen Loyalität ihn immer noch zu einer Truppe hinzog, die nicht mehr existierte, zu Kameraden, die tot oder in alle Welt verstreut waren, zu einem Kind, das er nie gesehen hatte und das von einer Frau geboren worden war, die er geliebt hatte, von der er jedoch in den fünfzehn Jahren, an die er sich nicht erinnerte, geschieden worden war.
Der in der Zeit verirrt wie in einem Gleiter unter einem konturlosen Himmel schwebte, nichts als Schwärze unter sich, und der nichts hatte, was ihm den Weg wies, als den Anblick eines fernen Feuers.
Am nächsten Tag ging er nach dem Mittagessen in der Krankenhaus-Cafeteria auf sein Zimmer. Auf seinem Bett lag ein Päckchen, ein schmuckloser brauner Papierumschlag, auf dem sein Name stand. Keine Briefmarken; es war also nicht mit der Post gekommen. Er riß es auf und fand eine schwarze Video-Patrone aus Metall, so groß wie ein Feuerzeug. Er sah in den Umschlag. Sonst nichts.
Er schaltete sein Video ein und steckte die Patrone in den Schacht. Der graue Bildschirm zischte ihn einen Moment lang an, dann hörte das Zischen auf und eine Stimme setzte ein. In Stewards Rückgrat setzte sich etwas Kaltes fest.
»Hi«, sagte sie. »Es gibt einiges, was du wissen solltest.«
Der Videoteil bestand nur aus einem Interferenzmuster. Steward versuchte ihn zu justieren, konnte jedoch kein Bild finden.
»Wenn du das bekommst«, sagte die Stimme, »heißt das, daß ich getötet worden bin. Ich hab' es einem Freund von mir gegeben, dem ich so weit vertrauen kann, daß er es dir gibt. Versuch nicht, ihn zu finden. Er wird dir nicht weiterhelfen können.«
Steward schaute zum Bildschirm hinauf und sah sein eigenes blasses Spiegelbild im Glas, ein Gespenst von sich selbst: buschige dunkle Brauen, kurzgeschnittenes Haar, Augen wie hin und her zuckende Schatten.
»Ich bin jetzt auf Ricot. Ich arbeite für Consolidated Systems, und ich bin in eine sehr komplizierte Geschichte verwickelt …« Die Stimme schien für einen Moment leiser zu werden, als ob der Mann den Mund vom Mikrophon genommen hätte. Vielleicht versuchte er sich nur darüber klarzuwerden, wieviel er erzählen sollte, oder wie. Dann war die Stimme wieder da, lauter als zuvor. Steward wäre beinahe einen Schritt zurückgetreten.
»Der Punkt ist …« – kratzend – »wenn man in gewisser Hinsicht wichtig wird, kann man keinem mehr vertrauen. Das ist die Lektion, die die Eisfalken gelernt haben, die uns alles auf Sheol gelehrt hat. Wir sind nämlich von unseren eigenen Leuten ausgebildet und reingelegt und verkauft worden.
Also, wenn man niemandem sonst vertrauen kann, dann lernt man, sich selbst zu vertrauen. So ist es bei mir gewesen. Und wenn die offiziellen Richtlinien, die sie einem geben, ihre ganze Moral und alles sich als ein Gewebe von … von …« Die Stimme verstummte erneut. Als sie wiederkam, war sie fast ein Schrei. Jedes Wort wurde mit solcher Intensität herausgepreßt, daß Steward beim Zuhören Halsschmerzen bekam. Er war froh, daß er das Gesicht des Mannes nicht sehen konnte, die gespannten Halsmuskeln, die Art, wie die Augen auf die leere Fläche eines anderen Videogeräts starren mußten. »Wenn überall nur noch Lügen sind, wenn man sich vor lauter Lügen nicht mehr umdrehen kann … nun, dann muß man die Wahrheit selbst herausfinden. Muß die Moral in sich selbst suchen. Muß tun, was man tun muß. So wie ich es versuchen werde.«
Steward hörte ein Klirren sehr dicht am Mikrophon, das Geräusch von Glas auf Glas. Der Mann schenkte sich einen Drink ein, und seine Hände waren nicht die ruhigsten. Steward sah auf seine eigenen Hände hinunter. Sie waren völlig reglos.
»Ich mache einen Job für einen Burschen namens Curzon. Er ist hier mein Chef. Ich fliege zum Hellere Sonnen-Komplex auf Vesta und mache dort etwas … das mir nicht ganz richtig vorkommt. Es sieht so aus, als ob ich ungeschoren rein und wieder raus kommen würde. Jetzt hör zu!«
Beim Klang des Befehls schnellte Stewards Blick wieder zum Bildschirm. Er lachte über seinen nervösen Reflex.
»Der Grund, warum ich fliege, ist, daß Colonel de Prey dort ist. Er ist derjenige, der für die Geschehnisse auf Sheol verantwortlich ist. Es war alles seine Idee. Jetzt
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