Die Stimmen des Flusses
jemand niest oder einfach durchdreht, denn Grund genug zum Durchdrehen gibt es. Später erzählte mir die Holländerin ihre Geschichte: Auch sie waren Juden. Sie war die Mutter der beiden Kinder, der Mann war ein Mathematiker, den die Alliierten in vierzehn Tagen in Lissabon haben wollten. Sie kannte ihn nicht und haßte ihn, weil er ihrem Mann den Platz weggenommen hatte. Dieser hatte in Maastricht zurückbleiben müssen und wartete nun auf einen neuen Transport. Und sie erzählte mir, daß die beiden Mädchen gelernt hatten, zuschweigen und ihre Angst hinunterzuschlucken. Sie erinnerten mich an Yves und Fabrice, sie hatten die gleichen von stiller Angst erfüllten Augen. Die Mutter berichtete weiter, daß die Kinder gelernt hatten, nicht darüber zu reden, wie ihre Großeltern verschwunden waren, als eines Nachts die SS Haarlem durchkämmt und schreiend drei ganze Züge gefüllt hatte: Es war die einzige Möglichkeit, den Horror zu überleben. Aber die Frau litt, weil die Seelen der Kinder zuletzt krank werden würden vom Schweigen und sie nicht wußte, was sie tun sollte. Und ich wußte nicht, was ich ihr sagen konnte, der armen Frau, aber ich verstand, daß es immer Menschen gibt, denen es vermutlich noch schlechter geht als einem selbst.
Ich glaube,Valentí Targa schöpft allmählich Verdacht. Warum sonst hätte er ausgerechnet an diesem Abend in die Schule kommen sollen, um die Papiere abzuholen, die er mit nach Lleida nehmen wollte, um dort – wie er mir weismachen wollte – über die Asphaltierung der Straße nach Sort zu reden? Warum hatte er mich nicht ins Rathaus zitiert? Mir schien, als sähe er die Papiere absichtlich ganz besonders langsam durch. Zwischendurch hielt er immer wieder inne, als hoffe er, vom Dachboden das unkontrollierte Hüsteln eines bezopften jüdischen Mädchens zu hören. Als er gegangen war, tat ich so, als wollte ich in dem Zimmer, das ich mir in der Schule eingerichtet habe, zu Bett gehen, löschte alle Lichter und wartete eine lange halbe Stunde. Dann brachte ich ihnen im Dunkeln den Kerosinherd hinauf und kochte ihnen eine stärkende Suppe. Seit zwölf Tagen hatten sie nichts Warmes gegessen. Und ich hatte seit ein paar Wochen wenig geschlafen. Es war der Krieg, meine Tochter. Der Führer sagte mir, daß diese holländische Gruppe nicht über Montgarri und die Ebene von Beret oder den Paß von Salau gekommen war, sondern über Andorra. Sie hatten einen seltsamen Zickzackkurs durch das Tal von Tor und Vall Ferrera hinter sich. Nun wirst Du Dich fragen, was sie bei mir in Torena zu suchen hatten; der Grund dafür ist sehr einfach unddramatisch: Es gibt im ganzen Pallars keinen anderen sicheren Ort, weil niemand in seiner Unterstützung so weit gehen will. Die Schule von Torena ist das einzige sichere Lager für die Fracht: Die Menschen in diesen Tälern und Bergen haben Angst, beinahe so große Angst wie ich.
Tina hob das Heft näher an ihre Augen und legte es dann wieder auf das Pult. Sie nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. Die saubere, aber winzige Schrift war schwer zu entziffern. Auf dem Bildschirm des Computers, in zwölf Punkt Helvetica, ließen sich Oriols Ängste bequemer lesen. Tina fragte sich, ob diese stummen, bezopften Mädchen nach Lissabon gelangt waren oder ob das Schicksal sie auf halbem Wege ereilt hatte. Was aus Fabrice und Yves geworden war, wußte sie, aber von den bezopften Mädchen wußte sie nichts. Vor achtundfünfzig Jahren waren die holländischen jüdischen Mädchen Kinder mit angsterfüllten Augen gewesen und hatten auf dem Dachboden der Schule von Torena, die vor einem Monat abgerissen worden war, eine heiße Suppe gegessen. Wie gerne hätte ich ihnen … Wie gerne hätte ich mehr mit Arnau gesprochen, etwas über seine Träume erfahren. Wie gerne würde ich mich vor dem Arztbesuch am Donnerstag drücken. Wie sehr wünsche ich mir, Jordi hätte mich nie belogen. Mein Gott, was habe ich in den letzten vierzig Jahren meines Lebens bloß falsch gemacht?
Es war ein trüber Morgen. Alles war trübe, angefangen bei dieser vermaledeiten Uniform – »Ich hab doch gesagt, sie muß blitzsauber sein!«
Das Drama des Bürgermeisters von Torena war, daß sein Haus nicht in Torena stand, sondern in Altron, wo der Rest seiner Familie lebte, die aber von ihm nichts wissen wollte, weil sie sich schon vor Jahren zerstritten hatten, damals, nach der Sache in Malavella. Ein Bürgermeister, der reich wurde, sehr reich, der aber kein verfluchtes Haus hatte,
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