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Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses

Titel: Die Stimmen des Flusses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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Ideen, die ihnen Anarchisten und Kommunisten in der Zeit des Chaos in den Kopf gesetzt hatten. Und so weiter. Vor allem aber hieß es, zum Glück haben wir Señor Targa, der entschlossen das Vaterland verteidigt. Wer das las, konnte auf die Idee kommen, eines Tages könne Senyor Valentí Targa, der Mörder von Torena, heiliggesprochen werden. Der Bericht schloß mit den Worten, möge Valentín Targa Sau, dieser vorzügliche Patriot, lange leben. Viva Franco. Arriba España.
    Ein doppeltes Spiel ist wie eine beidseitig geschliffene Klinge. Wenn du nicht aufpaßt, schneidest du dich. Ich habe solche Angst, mein Kind.

28
    Es hatte wieder zu schneien begonnen, und Tina Bros streichelte Doktor Schiwago, während sie den Flocken zusah, die träge herabsanken und das Dorf einhüllten. Den ganzen Nachmittag lang hatte sie in verschiedenen Krankenhäusern angerufen, freundlich, aber entschlossen gesagt, sie schreibe an einer Doktorarbeit über die vierziger Jahre, hatte dreist gelogen, wie Jordi es tat, Namen fallenlassen und Leuten versprochen, sie aus Dank für ihre unschätzbare Hilfe in der Doktorarbeit namentlich zu erwähnen. Schließlich hatte sie aufgegeben, weil sie einsehen mußte, daß sie nicht einen Schritt weitergekommen war und daß es absurd war, seine Nase in etwas stecken zu wollen, was längst als unerschütterliche geschichtliche Wahrheit galt. Sie klappte ihr Notizbuch mit den hastig und unleserlich hingekritzelten Aufzeichnungen zu und starrte geistesabwesend aus dem Fenster auf den Schnee, der alles in andächtiger Stille weiß färbte. Vor ihr lagen die hundert geordneten Fotos für das Buch über die Häuser, Straßen und Friedhöfe des Pallars. Die Dokumentation war lückenlos und fast abgeschlossen, aber in Gedanken war sie bei den Heften von Oriol Fontelles, die voller weißer Flecken waren, voller Fragezeichen. Wo kann ich seine Tochter finden, die weder für ihren Vater noch für mich einen Namen hat? Sie setzte Juri auf den Boden, nahm das Notizbuch und verließ entschlossen das Arbeitszimmer. Es war das erste Mal seit Arnaus Weggang, daß sie sein Zimmer betrat, um sich dort umzusehen. Alles war ordentlich aufgeräumt, als wäre er übers Wochenende ins Zeltlager gefahren; alles lag an seinem Platz, wie kommt es nur, daß unser Sohn ein Leben lebt, von dem wir nichts geahnt haben.
    Sie setzte sich auf Arnaus Stuhl. Ein ordentlicher, leererTisch, alles war getan, nichts war unerledigt. Sie zog eine Schublade auf. Dinge, Erinnerungen, der Füllfederhalter, den Jordi und sie ihm zum zehnten Geburtstag geschenkt hatten. Buntstifte, Reißzwecken, du fehlst mir, Arnau, mein Junge. Als sie die untere Schublade öffnete, tat ihr Herz einen Sprung, denn sie konnte es nicht fassen. Und sie akzeptierte es auch nicht.
    Sie nahm das Album heraus und legte es auf den Tisch. Das Fotoalbum, das sie ihm am Abend vor seiner Flucht ins Kloster geschenkt hatte, mit Fotos von ihm, seinem Vater und ihr, als wir alle noch aufrichtig und glücklich waren, Fotos aus verschiedenen Epochen, über die er sich sehr gefreut hatte, du hast es mir gesagt, ich erinnere mich noch genau daran, danke für die Fotos, Mutter, ich habe mich sehr darüber gefreut. Das hast du gesagt, und jetzt stellt sich heraus, daß du sie in der dritten Schreibtischschublade in diesem Zimmer hast liegenlassen, in das du nie wieder zurückkehren willst, weil du dich lieber für den Rest deines Lebens zwischen hohen, kalten Klostermauern verkriechen willst. Wie schade, mein Sohn, wie jammerschade.
    Sie sah sich die Fotos noch einmal an, eines nach dem anderen, und fragte sich, ob sie ihm nicht gefallen hatten, daß er sie so hatte liegenlassen, aber sie fand nichts, was ihr weitergeholfen hätte. Doktor Schiwago kam herein, sprang aufs Bett und sah sie an.
    »Was hältst du davon, Juri Andrejewitsch?« Sie zeigte ihm das Album. »Er hat es nicht mitnehmen wollen.«
    »Vielleicht wollte er nichts mitnehmen, was in ihm Heimweh hätte wecken können«, antwortete Doktor Schiwago und leckte sich die Pfote.
    Da begann Tina zu begreifen, daß Arnau auch den Erinnerungen an das Leben entsagt hatte, das er für sein neues Leben aufgegeben hatte. Du Schuft, dachte sie:Wenn du auf das Album verzichtest, heißt das, daß du auch auf mich verzichtest. Warum bist du so grausam? Sie dachte daran, daß der grausame Jesus gesagt hatte, folge mir und laß die Totenihre Toten begraben und wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert. Das war

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