Die Stimmen des Flusses
das Gegenteil dessen, was sie mit Oriol Fontelles’ Aufzeichnungen und der vagen Spur Rosas tat, was sie dazu trieb, das Krankenhaus zu suchen, in dem Oriols Frau achtundfünfzig Jahre zuvor gestorben war. Ich bin vielleicht nicht besonders schlau, ich habe vier Kilo zuviel auf den Rippen und bin nicht sehr gebildet, aber ich versuche, nicht so grausam zu sein wie du, Gott der Klöster, der du unsere Kinder zu Menschenfischern machst, ohne die Mütter um ihre Meinung zu fragen. Nun gut, sechs Kilo.
Sie schloß das Album und legte es in die Schublade zurück, dann schob sie diese so leise zu, als müßte sie heimlich zu Werke gehen. Plötzlich fiel ihr Blick auf Arnaus Terminkalender, der in einer Ecke des Tisches lag. Sogar deinen Kalender läßt du zurück, mein Sohn? So tief muß der Schnitt gehen? Sie schlug ihn ohne seine Erlaubnis auf, etwas, was sie nie zuvor gewagt hatte. Die letzte Woche, die letzten Tage: Montag, Mireia, in großen Buchstaben und unterstrichen, quer über die ganze Seite hinweg. Mireia. Lleida. Wer ist Mireia? Wer ist dieses Mädchen, dem es nicht gelungen ist, dich den Klauen der Mönche zu entreißen? Mireia, ich möchte dich gerne kennenlernen, damit du mir etwas über meinen Sohn erzählst. Sicher kennst du ihn besser als ich. Hast du ihn geliebt? Habt ihr miteinander geschlafen? Hat mein Sohn jemals mit jemandem geschlafen? Ich kann ihn das nicht mehr fragen. Als er vielleicht zehn Jahre alt war, haben wir ihm auf einem Ausflug ins Vall Ferrera erklärt, wozu ihm der Penis dienen würde, wenn er einmal größer wäre, und da hat er gesagt, also, ich werde mal viele Kinder haben, das steht fest. Und wir hatten gerade erst ein paar Tage zuvor beschlossen, daß wir kein weiteres Kind haben wollten, nur Arnau. Mireia. Lleida. Ein ganzer Tag für den Abschied von Mireia. Sie muß in seinem Leben eine wichtige Rolle gespielt haben. Dienstag, Ramon und Elias, um vier. Cervera, Basisgemeinde. Mittwoch, der sechzehnte: Basisplattform, nachmittagsGemeinde Tremp. Abends: Abschied Eltern, Abendessen. Für die Eltern ein Abendessen. Jeder hatte es gewußt bis auf die Eltern, die erfahren es immer zuletzt. Für die Eltern war nur ein Abendessen geplant. Für Ramon und Elias ein Nachmittag. Für Mireia ein ganzer Tag. Weiß jeder, daß Jordi mich betrügt? Wußte das jeder außer mir? Bin ich die letzte, die es erfahren hat? Und bei Donnerstag, siebzehnter Januar zweitausendzwei, stand in energischem, beinahe ekstatischem Schriftzug unter neun Uhr morgens: Eintritt ins Kloster. Taktvoll, wie er war, hatte er kein Ausrufezeichen dahinter gesetzt. Alles war so genau geplant, daß danach keine Eintragung mehr folgte, der Kalender war fast leer. Oder doch, im April: dreißigster April, Mutters Geburtstag. Ja, das hatte er aufgeschrieben, aber er hatte den Kalender liegenlassen. Traurig klappte sie ihn zu. Sie legte ihn wieder an die alte Stelle zurück, als müßte sie darauf achten, daß Arnau bei seiner Rückkehr nach einem ganzen Leben nicht bemerkte, daß sie in seinen Geheimnissen gewühlt hatte. Sie dachte, wozu braucht er im Kloster einen Kalender, wenn Matutin, Laudes, Prim, Terz, Sext, Non, Vesper und Komplet immer zur gleichen Zeit gebetet werden. Armer Junge, sein Leben lang wird er darauf hören, wann es zu Matutin, Laudes, Prim, Terz, Sext, Non,Vesper und Komplet schlägt, und denken, er sei glücklich.
29
Es war eine außergewöhnlich schwierige Nacht gewesen: Am Abend, als sich ein scharfer, unangenehmer Wind erhob, der die Hänge des Montsent in Rauheis hüllte, kam die Fracht an, die er seit zwei Tagen erwartet hatte: ein Mann mit verängstigtem Blick und zitternden Händen, eine stille Frau in Oriols Alter, die sich mit ihrem Schicksal als Flüchtling abgefunden zu haben schien, und zwei bezopfte Mädchen, bleich vor Erschöpfung. Nicht noch eine Familie, dachte er. Glücklicherweise hatten sie keinen Hund dabei. Der Führer, ein Mann aus Son, flüsterte mir ins Ohr: »Laß sie einen ganzen Tag lang schlafen, sie können nicht mehr.«
»Woher kommen sie?«
»Aus Holland. Ich schlafe auch hier.«
»Dies ist keine gute Nacht, um Leute zu beherbergen.«
»Es gibt keine guten Nächte. Aber ich kann auch nicht mehr.«
Ich mußte sie die Treppe zum Dachboden hinaufschieben, denn just in diesem vermaledeiten Augenblick tauchte Valentí Targa mit zweien seiner Männer auf. Das ist meine größte Furcht: daß gerade unerwünschte Lauscher im Klassenzimmer sind, wenn auf dem Dachboden
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