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Die Stimmen von Marrakesch

Die Stimmen von Marrakesch

Titel: Die Stimmen von Marrakesch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elias Canetti
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Rembrandt. Es gab katholische Priester von listiger Stille und Demut. Es gab Ewige Juden, denen die Unruhe über die ganze Gestalt geschrieben war. Es gab Franzosen. Es gab Spanier. Es gab rötliche Russen. Einen hätte man als den Patriarchen Abraham begrü- ßen mögen, er sprach herablassend zu Napoleon und ein hitziger Besserwisser, der wie Goebbels aussah, mischte sich ein. Ich dachte an Seelenwanderung. vielleicht, sagte ich mir, muß jedes Menschen Seele einmal zum Juden werden, und nun sind sie alle hier: Keine erinnert sich daran, was sie früher war und selbst wenn es sich in den Zügen so deutlich verrät, daß ich, ein Fremder, es erkenne, glaubt jeder dieser Menschen doch fest daran, daß er in gerader Linie von den Leuten der Bibel abstammt.
    Aber sie hatten etwas, das ihnen allen gemeinsam war, und sobald ich mich an die Reichhaltigkeit ihrer Gesichter und ihres Ausdrucks gewöhnt hatte, versuchte ich herauszufinden, was dieses Gemeinsame eigentlich war. Sie hatten eine rasche Art, aufzublicken und sich über den, der vorüberkam, ein Urteil zu bilden. Nicht
einmal
geschah es, daß ich unbemerkt passierte. Wenn ich stehenblieb, mochte man in mir einen Käufer wittern und mich daraufhin prüfen. Aber meist empfing ich den raschen, intelligenten Blick lange, bevor ich stehenblieb, und ich empfing ihn auch, wenn ich auf der anderen Seite der Gasse ging. Selbst bei den wenigen unter ihnen, die faul wie die Araber dalagen, war der Blick nie faul: Er kam, ein sicherer Kundschafter, und ging rasch wieder. Es gab feindliche Blicke darunter, kalte, gleichgültige, ablehnende und unendlich weise. Aber nie erschienen sie dumm. Es waren die Blicke von Menschen, die immer auf der Hut sind, aber die Feindseligkeit, die sie erwarten, nicht hervorrufenm wollen: keine Spur von Herausforderung; und eine Angst, die sich wohlweislich verborgen hält.
    Man möchte sagen, daß die Würde dieser Menschen in ihrer Umsichtigkeit enthalten ist. Der Laden ist nur auf einer Seite offen und sie brauchen um nichts besorgt zu sein, was in ihrem Rücken geschieht. Dieselben Menschen, auf der Gasse, fühlen sich unsicherer. Ich merkte bald, daß die ›Ewigen Juden‹ unter ihnen, die, die rastlos und zweifelhaft wirkten, immer
Passanten
waren; Leute, die ihre ganzen Waren mit sich herumtrugen und sich damit einen Weg durch die Menge bahnen mußten; die nie wußten, ob nicht jemand vom Rücken her über ihren armseligen Besitz herfiel, von links, von rechts oder von allen Seiten zugleich. Wer einen Laden sein eigen nannte und sich darin aufhielt, hatte etwas beinah Beruhigtes.
    Manche aber kauerten auf der Gasse und boten Winzigkeiten feil. Oft waren es ganz jämmerliche Häufchen von Gemüse oder Früchten. Diese wirkten so, als hätten sie eigentlich gar nichts zu verkaufen und klammerten sich bloß an die Geste des Erwerbs. Sie sahen vernachlässigt aus; es gab viele von ihnen, und ich fand es nicht leicht, mich an sie zu gewöhnen. Aber bald war ich doch auf alles gefaßt und ich wunderte mich nicht besonders, als ich einen alten, kränklichen Mann am Boden hocken sah, der eine einzige verschrumpfte Zitrone zum Verkauf hinhielt.
    Ich ging nun auf einer Gasse, die vom Bazar des Eingangs tiefer in die Mellah hineinführte. Sie war dicht belebt. Mitten unter den zahllosen Männern kamen mir einzelne Frauen entgegen, unverschleiert. Ein uraltes, völlig verwittertes Weib schlich daher, sie sah aus wie der älteste Mensch. Ihre Augen waren starr in die Ferne gerichtet, sie schien genau zu sehen, wohin sie ging. Sie wich niemandem aus, während andere Kurven beschrieben um durchzukommen, war um sie immer Platz. Ich glaube, man fürchtete sie: Sie ging ganz langsam und hätte Zeit gehabt, jedes einzelne Geschöpf zu verwünschen. Die Furcht, die sie einflößte, war es wohl, die ihr die Kraft zu ihrer Wanderung gab. Als sie endlich an mir vorüber war, wandte ich mich um und sah ihr nach. Sie spürte meinen Blick; denn sie drehte sich, so langsam wie sie ging, zu mir zurück und nahm mich voll ins Aug. Ich machte mich schleunigst davon; und so instinktiv war meine Reaktion auf ihren Blick gewesen, daß ich erst später merkte, wieviel rascher ich nun ging.
    Ich passierte eine Reihe von Barbierläden. Junge Männer, Friseure, standen müßig vor der Tür. Auf dem Boden gegenüber hielt ein Mann einen Korb mit gerösteten Heuschrecken feil. Ich dachte an die berühmte ägyptische Plage und wunderte mich, daß auch Juden Heuschrecken aßen.

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