Die Stimmen von Marrakesch
alte Stofflappen gewickelt waren. Diese waren es, die das Kind geküßt hatte. Es hatte sich alles in größter Stille abgespielt und in meiner Befangenheit hatte ich nicht bemerkt, daß die Schuljungen hinter mir standen und mich beobachteten.
Plötzlich hörte ich ihr helles Lachen, drei oder vier von ihnen sprangen auf das Tor der Kubba zu, packten den Ring und küßten die alten Stofflappen. Sie lachten dabei laut und wiederholten die Prozedur von allen Seiten. Einer hing rechts am Ring, der andere links, und ihre Küsse folgten sich wie lautes Schnalzen. Sie wurden bald von anderen hinter ihnen weggestoßen. Jeder wollte mir zeigen, wie es zu geschehen habe; vielleicht erwarteten sie, daß ich es ihnen nachtue. Es waren saubere Kinder, alle gut gehalten, sicher wurden sie mehrmals am Tag gewaschen. Die Stofflappen aber sahen so schmutzig aus, als wäre die Gasse mit ihnen abgewischt worden. Sie galten als Fetzen vom Gewand des Heiligen selbst und für die Gläubigen war etwas von seiner Heiligkeit in ihnen enthalten.
Als die Jungen sich alle daran sattgeküßt hatten, kamen sie mir nach und umringten mich. Einer von ihnen fiel mir durch sein kluges Gesicht auf und ich merkte, daß er gern mit mir gesprochen hätte. Ich fragte ihn auf französisch, ob er lesen könne. Er sagte sehr wohlerzogen: »Qui, Monsieur.« Ich trug ein Buch unterm Arm, ich schlug es auf und hielt es ihm hin; er las langsam, aber fehlerlos die französischen Sätze herunter. Das Buch war ein Werk über die Glaubenssitten der Marokkaner, und die Stelle, die ich aufgeschlagen hatte, handelte von der Verehrung der Heiligen und ihren Kubbas. Man mag einen Zufall darin sehen oder nicht, er las mir jetzt vor, was er mir soeben mit seinen Kameraden vorgeführt hatte. Er ließ sich aber nichts davon anmerken; vielleicht faßte er im Eifer des Lesens die Bedeutung der Worte gar nicht auf. Ich lobte ihn, er nahm meine Anerkennung mit der Würde eines Erwachsenen entgegen. Er gefiel mir so gut, daß ich ihn unwillkürlich mit der Frau am Gitter in Verbindung brachte. Ich zeigte in die Richtung des verfallenen Hauses und fragte: »Diese Frau dort am Gitter obenkennst du sie?«
»Qui, Monsieur«, sagte er und sein Gesicht wurde sehr ernst.
»Elle est malade?« fragte ich weiter.
»Elle est très malade, Monsieur.«
Das »sehr«, das meine Frage verstärkte, klang wie eine Klage, aber eine Klage über etwas, in das er ganz ergeben war. Er war vielleicht neun Jahre alt, aber er sah nun aus, als hätte er schon zwanzig Jahre mit einer Schwerkranken zusammengelebt, wohl wissend, wie man sich da aufführen müsse.
»Elle est malade dans sa tête, n'est-ce pas?«
»Qui, Monsieur, dans sa tête.« Er nickte, als er »im Kopf« sagte, aber er zeigte statt auf seinen eigenen Kopf auf den eines anderen Jungen, der von besonderer Schönheit war: Er hatte ein langes, mattes Gesicht mit weit aufgerissenen, schwarzen, sehr traurigen Augen.
Keines der Kinder lachte. Sie standen schweigend da. Ihre Stimmung hatte sich im Nu verändert, sobald ich von der Frau am Gitter zu sprechen begann.
BESUCH IN DER MELLAH
Am dritten Morgen, sobald ich allein war, fand ich den Weg in die Mellah. Ich kam an eine Kreuzung, wo viele Juden standen. Der Verkehr flutete an ihnen vorüber und um eine Ecke herum. Ich sah Menschen durch ein Gewölbe hindurchgehen, das in eine Mauer eingelassen schien, und folgte ihnen. Innerhalb dieser Mauer, auf allen vier Seiten von ihr umschlossen, lag die Mellah, das Judenviertel.
Ich fand mich auf einem kleineren, offenen Bazar. In niedrigen Gelassen hockten Männer mitten unter ihren Waren; manche, die europäisch gekleidet waren, saßen oder standen. Die Mehrzahl trugen die schwarzen Käppchen auf dem Kopf, durch die sich die Juden hier auszeichnen, und sehr viele waren bärtig. In den ersten Läden, auf die ich stieß, verkaufte man Stoffe. Einer maß mit der Elle Seide ab. Ein anderer führte nachdenklich und rasch seinen Bleistift und rechnete. Auch die reicher ausgestatteten Läden wirkten sehr klein. Viele hatten Besucher; in einem der Gelasse lagerten zwei sehr dicke Männer nachlässig um einen hageren dritten, der der Inhaber war und führten mit ihm eine lebhafte und doch würdevolle Unterhaltung.
Ich ging so langsam wie möglich vorüber und betrachtete die Gesichter. Ihre Verschiedenartigkeit war erstaunlich. Es gab Gesichter, die ich in anderer Kleidung für Araber gehalten hätte. Es gab leuchtende alte Juden von
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