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Die Stimmen von Marrakesch

Die Stimmen von Marrakesch

Titel: Die Stimmen von Marrakesch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elias Canetti
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etwas Feines. Wie eine Engländerein. Ich persönlich mag die Engländer nicht. Sie sind mir zu ruhig. Schauen Sie Ihre Freunde an! Da sitzen sieben, acht Leute einen ganzen Abend da, stundenlang und man hört keinen Laut. Das ist mir unheimlich. Man weiß nie, ob nicht ein Lustmörder dahintersteckt. Aber verglichen mit den Amerikanern - die mag ich schon gar nicht. Das sind Barbaren. Haben Sie meinen Gummiknüppel gesehen?« Sie nahm ihn hinter der Bar hervor und schwang ihn ein paarmal hin und her. »Den habe ich nur für Amerikaner. Er hat mir schon oft genützt, das kann ich Ihnen sagen!«

 

DER UNSICHTBARE
    In der Dämmerung ging ich auf den großen Platz in der Mitte der Stadt, und was ich da suchte, waren nicht seine Buntheit und Lebendigkeit, die waren mir wohl vertraut, ich suchte ein kleines, braunes Bündel am Boden, das nicht einmal aus einer Stimme, das aus einem einzigen Laut bestand. Es war ein tiefes, langgezogenes, surrendes »-ä-ä-ä-ä-ä-ä-ä-ä-«. Es nahm nicht ab, es nahm nicht zu, aber es hörte nie auf, und hinter all den tausendfältigen Rufen und Schreien des Platzes war es immer vernehmbar. Es war der unveränderlichste Laut der Djema el Fna, der sich im Verlauf eines ganzen Abends und von Abend zu Abend immer gleich blieb.
    Schon aus der Ferne horchte ich darauf. Eine Unruhe trieb mich hin, für die ich keine rechte Erklärung weiß. Ich wäre auf alle Fälle auf den Platz gegangen, so vieles dort zog mich an; und ich zweifelte nie daran, daß ich ihn wieder vorfinden würde, mit allem, was zu ihm gehörte. Nur um diese Stimme, die zu einem einzigen Laut reduziert worden war, verspürte ich etwas wie Bangen. Sie war an der Grenze des Lebendigen; das Leben, das sie erzeugte, bestand aus nichts anderem als diesem Laut. Ich horchte begierig und ängstlich und dann erreichte ich immer einen Punkt auf meinem Weg, genau an derselben Stelle, wo ich es plötzlich hörte, wie das Surren eines Insekts:
    »ä-ä-ä-ä-ä-ä-ä-ä-.«
    Ich spürte, wie eine unbegreifliche Ruhe sich durch meinen Körper verbreitete, und während mein Schritt bis jetzt etwas zögernd und unsicher gewesen war, ging ich nun plötzlich mit Bestimmtheit auf den Laut los. Ich wußte, wo er entstand. Ich kannte das kleine, braune Bündel am Boden, von dem ich nie mehr gesehen hatte als ein dunkles und rauhes Stück Stoff. Ich hatte nie den Mund gesehen, dem das »ä-ä-ä-ä-ä-« entstammte; nie das Auge; nie die Wange; keinen Teil des Gesichts. Ich hätte nicht sagen können, ob dieses Gesicht das eines Blinden war oder ob es sah. Der braune, schmutzige Stoff war wie eine Kapuze ganz über den Kopf heruntergezogen und hielt alles verdeckt. Das Geschöpf - es mußte eines sein - kauerte am Boden und hielt den Rücken unterm Stoff gebeugt. Es war wenig vom Geschöpf da, es wirkte leicht und schwach, das war alles, was man vermuten konnte. Ich wußte nicht, wie groß es war, denn ich sah es nie stehen. Was davon am Boden war, hielt sich so nieder, daß man ahnungslos darübergestolpert wäre, hätte der Laut je aufgehört. Ich sah es nie kommen, ich sah es nie gehen; ich weiß nicht, ob es hingebracht und abgelegt wurde, oder ob es auf eigenen Beinen ging.
    Die Stelle, die es sich ausgesucht hatte, war gar nicht geschützt. Es war der offenste Teil des Platzes und ein unaufhörliches Kommen und Gehen auf allen Seiten des braunen Häufleins. An belebten Abenden verschwand es unter den Beinen der Menschen, und obwohl ich genau wußte, wo es war, und die Stimme immer hörte, hatte ich Mühe, es zu finden. Aber dann verliefen sich die Leute, und es blieb in seiner Stellung, als rings um es der Platz schon weit und breit leer war. Dann lag es in der Dunkelheit wie ein weggelegtes altes und sehr schmutziges Kleidungsstück, das jemand loswerden wollte und verstohlen unter den vielen Leuten fallen ließ, damit man nicht auf ihn aufmerksam würde. Jetzt aber hatten sich die Leute verlaufen, und das Bündel allein lag da. Ich wartete nie, bis es sich erhob oder abgeholt wurde. Ich schlich mich in die Dunkelheit davon, mit einem würgenden Gefühl von Ohnmacht und Stolz.
    Die Ohnmacht galt mir selbst: Ich fühlte, daß ich nie etwas unternehmen würde, um hinter das Geheimnis des Bündels zu kommen. Ich hatte Scheu vor seiner Gestalt; und da ich ihm keine andere geben konnte, ließ ich es dort am Boden liegen. Wenn ich in die Nähe kam, gab ich mir Mühe, nicht daranzustoßen, als könnte ich es verletzen und gefährden. Es war

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