Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Stimmen von Marrakesch

Die Stimmen von Marrakesch

Titel: Die Stimmen von Marrakesch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elias Canetti
Vom Netzwerk:
vertrieb die Schüchternen hart, während er die Frechen gewähren ließ. Es hatte alles seine Bedeutung. Er war der arme und traurige Herr dieser Schulabteilung, als die Vorführung beendet war, schwanden die kargen Spuren befriedigten Stolzes von seinem Gesicht. Ich bedankte mich sehr höflich und, um ihn zu heben, etwas von oben herab, als wäre ich ein wichtiger Besucher. Meine Zufriedenheit war unverkennbar; in meinem verfehlten Taktgefühl, das mich in der Mellah überall verfolgte, beschloß ich, am nächsten Tag wiederzukommen und ihm dann erst etwas Geld zu geben. Ich sah noch einen Augenblick den rezitierenden Buben zu, ihr Hin- und Herwiegen hatte es mir angetan, von allem gefielen sie mir am besten. Dann ging ich, aber den Lärm nahm ich ein gutes Stück mit. Er geleitete mich bis ans Ende der Straße.
    Diese wurde nun belebter, als führe sie an einen wichtigen öffentlichen Ort. Ich sah in einiger Entfernung von mir eine Mauer und ein großes Tor. Ich wußte nicht, wohin es führte; aber je näher ich ihm kam, um so öfter traf ich auf Bettler, die rechts oder links von der Straße saßen. Ich wunderte mich über sie, da ich noch keine jüdischen Bettler gesehen hatte. Bei jenem Tore angelangt, sah ich zehn oder fünfzehn von ihnen in einer Reihe kauern, Männer und Frauen, meist ältere Leute. Ich stand etwas verlegen mitten auf der Straße still und gab mir den Anschein, das Tor zu studieren, während ich in Wahrheit die Gesichter der Bettler betrachtete. Ein junger Mann kam von der Seite auf mich zu, zeigte auf die Mauer, sagte »le cimetière israélite«, und machte sich erbötig, mich hineinzuführen. Es waren die einzigen französischen Worte, die er sprach. Ich folgte ihm rasch durch das Tor. Er war flink und es gab nichts zu reden. Ich fand mich auf einem ungeheuer kahlen Platz, wo nicht ein Halm wuchs. Die Grabsteine waren so nieder, daß man sie fast übersah; im Gehen stieß man daran wie an gewöhnliche Steine. Der Friedhof sah wie ein riesiger Schutthaufen aus; vielleicht war er es gewesen und man hatte ihn erst später seiner ernsteren Bestimmung zugeführt. Nichts auf dem Platze erhob sich in die Höhe. Die Steine, die man sah, und die Knochen, die man sich dachte, alle
lagen.
Es war nicht angenehm, hier aufrecht zu gehen, man konnte sich gar nichts darauf einbilden und kam sich nur lächerlich vor.
    Die Friedhöfe in anderen Teilen der Erde sind so eingerichtet, daß sie den Lebenden Freude gewähren. Es lebt viel auf ihnen, Pflanzen und Vögel, und der Besucher, als einziger Mensch unter so viel Toten, fühlt sich davon aufgemuntert und gestärkt. Sein eigener Zustand erscheint ihm beneidenswert. Auf den Grabsteinen liest er die Namen von Leuten; jeden einzelnen von ihnen hat er überlebt. Ohne daß er es sich gesteht, ist ihm ein wenig so zumute, als hätte er jeden von ihnen im Zweikampf besiegt. Er ist auch traurig, gewiß, über so viele, die nicht mehr sind, aber dafür ist er selber unüberwindlich. Wo sonst kann er sich so vorkommen? Auf welchem Schlachtfeld der Welt bleibt er als einziger übrig? Aufrecht steht er mitten unter ihnen, die alle liegen. Aber auch die Bäume und die Grabsteine stehen aufrecht. Sie sind hier gepflanzt und aufgestellt und umgeben ihn als eine Art von Hinterlassenschaft, die dazu da ist, ihm zu gefallen.
    Auf diesem wüsten Friedhof der Juden aber ist nichts. Er ist die Wahrheit selbst, eine Mondlandschaft des Todes. Es ist dem Betrachter herzlich gleichgültig, wer wo liegt. Er bückt sich nicht und sucht es nicht zu enträtseln. Sie sind alle da wie Schutt und man möchte rasch wie ein Schakal darüber weghuschen. Es ist die Wüste aus Toten, auf der nichts mehr wächst, die letzte, die allerletzte Wüste.
    Als ich ein Stück weit hineingegangen war, hörte ich Rufe hinter mir. Ich drehte mich um und blieb stehen. Auch auf der inneren Seite der Mauer, nahe beim Tor, standen Bettler. Es waren alte, bärtige Männer, einige von ihnen auf Krücken, einige blind. Ich stutzte, weil ich sie vorher nicht bemerkt hatte; da mein Führer es so eilig gehabt hatte, war zwischen ihnen und mir eine Entfernung von gewiß hundert Schritt. Ich zögerte davor, dieses Stück Einöde nochmals zu überschreiten, bevor ich weiter eingedrungen war. Aber
sie
zögerten nicht. Drei von ihnen lösten sich aus der Gruppe an der Mauer und kamen in größter Eile auf mich zugehumpelt. Der erste von ihnen war ein breitschultriger, schwerer Mann mit einem mächtigen Bart. Er war

Weitere Kostenlose Bücher