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Die Stimmen von Marrakesch

Die Stimmen von Marrakesch

Titel: Die Stimmen von Marrakesch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elias Canetti
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Schwalben aus, man fragt sich, ob sie je schlafen, es fehlt ihnen an Faulheit, Gemessenheit und Würde. Sie rauben im Fliegen, die Dächer, die leer sind, mögen ihnen wie ein erobertes Land erscheinen.
    Denn man zeigt sich nicht auf den Dächern. Hier, dachte ich, werde ich Frauen sehen wie in Märchen, von hier werde ich in die Höfe der Nachbarhäuser schauen und ihr Treiben belauschen. Als ich das erste Mal auf das Dach stieg, das zum Haus meines Freundes gehörte, war ich voller Erwartung, und solange ich in die Ferne blickte, auf die Berge, über die Stadt, war er es zufrieden und ich fühlte seinen Stolz, daß er mir etwas so Schönes zeigen konnte. Aber er wurde unruhig, als ich an der Ferne ermüdete und meine Neugierde für das Nahe sich regte. Er ertappte mich bei einem Blick in den Hof des Nachbarhauses, von wo ich zu meiner Freude weibliche und spanische Laute vernahm. »Das tut man hier nicht«, sagte er. »Das soll man nicht. Ich bin oft davor gewarnt worden. Es gilt als unfein, sich um die Vorgänge im Nebenhaus zu kümmern. Es gilt als unanständig. Man soll sich eigentlich überhaupt nicht auf dem Dache zeigen, schon gar nicht als Mann. Denn manchmal gehen die Frauen auf die Dächer und sie wollen sich ungestört fühlen.«
    »Aber es sind doch gar keine Frauen da.«
    »Vielleicht hat man uns gesehen«, meinte er. »Man kommt in Verruf. Man spricht auch keine verschleierte Frau auf der Straße an.«
    »Und wenn ich nach dem Weg fragen möchte?«
    »Dann mußt du warten, bis dir ein Mann entgeg kommt.«
    »Aber du könntest dich doch auf dein eigenes Dach setzen. Wenn du jemand auf dem Nachbardach bemerkst, ist es nicht deine Schuld.«
    »Dann muß ich wegschauen. Ich muß merken lassen, wie uninteressiert ich bin. Hinter uns ist eben eine erschienen. Es ist eine alte Magd. Die hat keine Ahnung, daß ich sie bemerkt habe. Aber sie ist schon verschwunden.«
    Ich hatte nicht einmal Zeit, mich umzuwenden. »Man ist also unfreier auf dem Dach als auf der Straße.« »Gewiß«, sagte er. »Man will bei der Nachbarschaft nicht in Verruf geraten.« Ich sah den Schwalben zu und beneidete sie, wie sie unbekümmert über drei, fünf, zehn Dächer zugleich hinwegschossen.

 

DIE FRAU AM GITTER
    Ich passierte einen kleinen, öffentlichen Brunnen, aus dem ein halbwüchsiger Junge trank. Ich bog nach links und hörte eine leise, weiche, zärtliche Stimme von der Höhe. Ich blickte an einem Hause gegenüber von mir auf und sah in der Höhe des ersten Stocks hinter einem geflochtenen Gitter das Gesicht einer jungen Frau. Sie war unverschleiert und dunkel und hielt ihr Gesicht ganz nah ans Gitter. Sie sprach viele Sätze, in leichtem Fluß, und alle diese Sätze bestanden aus Koseworten. Es war mir unbegreiflich, daß sie keinen Schleier trug. Sie hielt den Kopf leicht geneigt und ich fühlte, daß sie zu mir sprach. Ihre Stimme hob sich nie, sie blieb gleichmäßig leise; es war so viel Zärtlichkeit darin, als hielte sie meinen Kopf in den Armen. Aber ich sah keine Hände, sie zeigte nicht mehr als das Gesicht, vielleicht waren die Hände irgendwo angebunden. Der Raum, in dem sie stand, war dunkel, auf der Straße, wo ich stand, schien grell die Sonne. Ihre Worte kamen wie aus einem Brunnen und flössen ineinander über, ich hatte nie Koseworte in dieser Sprache gehört, aber ich fühlte, daß sie es waren.
    Ich wollte näher treten, um das Tor des Hauses zu sehen, aus dem die Stimme kam, aber ich hatte Scheu davor, daß eine Bewegung von mir die Stimme wie einen Vogel verscheuchen könnte. Was tat ich dann, wenn sie verstummte. Ich versuchte, so zart und so leise zu sein wie die Stimme selbst und ging Schritte, wie ich sie noch nie gegangen war. Es gelang mir, sie nicht zu erschrecken. Ich hörte die Stimme noch, als ich ganz nah am Hause stand und den Kopf am Gitter nicht mehr sehen konnte. Das schmale Gebäude wirkte wie ein verfallener Turm. Man sah in eine Lücke an der Mauer, wo Steine herausgefallen waren. Das Tor ohne jeden Schmuck, aus ärmlichen Brettern gezimmert, war mit Draht festgemacht und sah aus, als würde es nicht oft geöffnet. Es war kein einladendes Haus, man konnte nicht hinein, und drinnen war es dunkel und sicher ganz verfallen. Gleich um die Ecke öffnete sich eine Sackgasse, aber da war es leblos und still und ich sah keinen Menschen, den ich etwas hätte fragen können. Auch in dieser Gasse verlor ich den Brunnen der kosenden Stimme nicht, um die Ecke klang es wie ein ganz fernes

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