Die Strafe des Seth
Wieso Meritusir es deinem Bruder geraten hat, kann ich nur erahnen.«
Chaemwaset war sein grenzenloses Erstaunen anzusehen. Er hätte mit allem gerechnet, nur nicht damit, dass der alte Mann ihm eine solche Offenbarung machen würde.
Er schluckte hörbar. »Das war mir nicht bekannt«, meinte er. »Ich hatte mich nur darüber gewundert, dass sich mein Bruder nicht in Theben bestatten lassen wollte.«
Ramsesnacht schmunzelte. »Deshalb bin ich gekommen, um dir das alles mitzuteilen, Majestät. Meritusir war das göttliche Werkzeug des Osiris, um Ramses zum Großen Gott Re zu führen. Osiris stattete sie mit Wissen aus, das keiner von uns besitzt. Ich vermute, dass die Ortswahl des Westlichen Hauses so gedacht war, damit niemand es berauben kann. Es gibt keinerlei Aufzeichnungen darüber. Dein Bruder hat verfügt, dass alle Dokumente, die über den Bau berichten, vernichtet werden, und so ist es geschehen. Das Grab soll in Vergessenheit geraten.
Nun haben die Götter in ihrem Zorn das Heiligtum über den Köpfen der Frevler zusammenstürzen lassen und damit jeglichen Hinweis auf das Haus der Ewigkeit mit Schutt bedeckt. Ich denke, Majestät, dass du daran nichts ändern solltest. Baue den Tempel deines Bruders nicht wieder auf. Es war der Wille der Ewigwährenden, dass man es errichtete, und es war ihr Wille, dass es wieder zerstört wurde. Belasse es dabei. Die Erinnerung an dieses Heiligtum und an das darin befindliche Grab wird mit den Jahren in Vergessenheit geraten, so wie Ramses es gewünscht hat.«
Nachdenklich strich sich Chaemwaset über seinen kahl rasierten Schädel. Er musste das alles erst einmal verdauen. Allerdings wurde ihm nun einiges klar, das er bis dahin nicht ganz hatte verstehen können.
»Es soll so geschehen, wie du es gesagt hast«, entschied er nach einer Weile. »Ich werde morgen nach meiner Krönung den Befehl erteilen, die großen Trümmerteile fortzuräumen, den feinen Schutt aber zu belassen. Und ich werde sofort nach meiner Thronbesteigung beginnen, die Maat wieder über das Chaos zu setzen. All jenen, die unter der Willkür meines Vorgängers und seiner Beamten zu leiden hatten, wird Recht zuteilwerden.«
Betrübt senkte er den Blick und seufzte. »Aber auch ich bin nicht in der Lage, die Toten wieder zum Leben zu erwecken, Ramsesnacht. Amunhotep und sein Sohn sollen aber weiterhin dort ruhen, wo wir sie bestattet haben. Sie warten auf den Fährmann unter dem Schutz des Großen Gottes Osiris und meines Bruders, dem zu Osiris gewordenen Pharao. Ramses wird nicht zulassen, dass man ihnen den Weg in den Schönen Westen verwehrt. Ich hingegen werde alles tun, damit niemand die Ruhe dieser drei Gerechtfertigten stört. Der Sand der Wüste und die Zeit sollen ihr gemeinsames Haus der Ewigkeit in Vergessenheit geraten lassen, so wie es der Wunsch der Götter war, auf dass mein Bruder ein Gefolgsmann des Re werden kann.«
»Danke, Majestät.« Ramsesnacht verneigte sich.
»Wie alt bist du jetzt?«, wechselte Chaemwaset das Thema und musterte den alten Mann.
Überrascht sah Ramsesnacht den künftigen Herrscher an. »Die Götter haben mir bereits achtzig Nilschwemmen gewährt.«
»Achtzig Nilschwemmen«, sinnierte Chaemwaset beeindruckt. »Du bist auf dem besten Wege, einhundertundzehn Jahre alt zu werden, ein Alter, das nur die Weisen erreichen.«
»Schon möglich, Majestät«, erwiderte Ramsesnacht. Um seine welken Lippen spielte ein Lächeln. »Bis dahin wird der Fluss noch viele Male steigen und fallen.«
Chaemwaset schmunzelte nun ebenfalls. »Dein Sohn bat mich um seine Entlassung. Ich brauche aber einen zuverlässigen Mann in Opet-sut, der die Geschicke des Tempels in meinem Namen lenkt. Wie wäre es, wenn du an seiner Stelle wieder das Amt des Hohepriesters von Theben und Ersten Propheten des Amun-Re übernimmst – zumindest so lange, wie Nesamun Zeit benötigt, um sich von seinem Schmerz zu erholen?«
Ramsesnacht schnappte nach Luft. »Aber, Majestät ...«
»Was ist, Ramsesnacht? Fühlst du dich zu alt, um die Geschicke von Opet-sut zu lenken?«
»Wenn du es befiehlst, Majestät, werde ich gehorchen.« Der alte Mann neigte den Kopf.
Chaemwaset war zufrieden. »Ich wusste, dass ich mich auf dich und deine Familie verlassen kann. Stets habt ihr treu zum Herrn der Beiden Länder gestanden.«
Er wandte sich um und sah in das Dunkel des Naos, wo Amun, der Verborgene, gütig lächelnd auf den neuen Herrn über das Schwarze und das Rote Land wartete.
Morgen sollte mit
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