Die strahlenden Hände
würde etwas nützen?«
Willbreit schwieg einen Moment. Die Frage schien ihn zu verblüffen und zu verunsichern. Bisher hatte noch niemand gefragt, ob das, was er tat, auch nützlich sei. Genaugenommen war die Fragestellung unerhört.
»Die Überlebenschance bei einer rechtzeitigen Operation ist gut. Bei Ihrer Frau Mutter käme Hemikolektomie rechts mit einer Dünn-Dickdarm-Anastomosierung in Frage, das bedeutet …«
»Ich weiß, Herr Professor. Ich habe selbst sechs Semester Medizin studiert. In Köln.«
»Ach! Eine abgebrochene Kollegin.« Willbreit stieß einen kurzen trockenen Lacher aus. »Dann brauche ich nicht lange zu erklären. Mir ist es überhaupt ein Rätsel, daß Ihre Frau Mutter bei diesem Stadium des Karzinoms bis vor kurzem so völlig beschwerdefrei war. Dies ist äußerst selten.«
»Das heißt, Sie können keine Prognose stellen.«
»Welche Frage! Wer kann das bei einem solchen Kolon-Ca?«
»Sie haben meiner Mutter gesagt: Noch sechs Monate …«
»Ihre Frau Mutter bat um schonungslose Offenheit. In Anbetracht der Sachlage hielt ich es für besser, wenn man …«
»Vorhin sagten Sie, daß eine große Chance besteht …«
»Noch kennen wir nicht den Zustand der Leber, ob da Metastasen …«
»Und wenn wir nicht operieren?«
»Ich bitte Sie!« Willbreits Stimme bekam einen vorwurfsvollen Ton. »An so etwas darf man gar nicht denken, vor allem Sie nicht, Frau Kollegin. Ohne Operation …«
Corinna drehte sich auf dem Stuhl halb herum und blickte wieder auf den eingerahmten Brief an der Wand. »Bitte«, sagte sie langsam, »legen Sie die Karteikarte meiner Mutter ab. Sie wird nicht zur Operation kommen.«
»Ich verstehe Sie nicht!« entgegnete Dr. Willbreit steif. »Wissen Sie überhaupt, was Sie da sagen? Muß ich Ihnen schildern, was in den nächsten Wochen mit Ihrer Mutter passiert?«
»Ich weiß es.« Corinnas Stimme war ganz ruhig und klar. Sie lehnte sich zurück, spreizte die freie linke Hand und streckte sie in Augenhöhe empor. Die langen schlanken Finger zitterten leicht. »Sie wird geheilt werden.«
»Wie bitte? Glauben Sie an Wunder?«
»Nein. An die Kraft! – Ich danke Ihnen, Herr Professor.«
Sie legte auf, faltete die Hände und stützte das Kinn darauf. Irgendwie hatte sie Angst, jetzt nach unten zu gehen und zu ihrer Mutter zu sagen: »Du mußt mir jetzt glauben, Mama. Du mußt mir ganz vertrauen. Ich will versuchen, dir die Krankheit wegzunehmen.«
In Bruchstücken setzte die Erinnerung an Heilungen in den vergangenen Jahren ein: das Emphysem von Frau Hennemann, das Asthma von Frau Wille, die Akne der Sekretärin, das blutende Magengeschwür eines Teilnehmers am Heilpraktikerlehrgang, der Harnröhrenverschluß des Apothekers Schultes in Münster – und immer wieder Ischiasbeschwerden, Rheuma, Gastritis, Verengung der Herzkranzgefäße, chronische Kopfschmerzen, Nervenlähmungen. Wie viele waren es gewesen, die regungslos vor ihr standen oder lagen und bei denen sie mit ihren langen schlanken Händen im Abstand von einigen Zentimetern, also ohne sie zu berühren, über die kranken Körperteile gestrichen hatte? Waren es wirklich unsichtbare, unerklärlich starke Strahlen, die von ihr ausgingen und die das alles bewirkten?
Hinterher war sie dann immer wie ausgelaugt, wie zerschlagen in allen Knochen und Muskeln, mußte sich hinsetzen und ein paar Zigaretten rauchen, tief Luft holen und die Augen schließen. Manchmal spürte sie, wie die verausgabte Kraft sich langsam wieder in ihr sammelte, wie ihr vom Verströmen der Energie geschwächter Körper sich erholte – sie fand keine Erklärung dafür, aber sie wäre fast vor sich selbst geflüchtet, als sie rein zufällig ihre Hände über einen welkenden Blumenstrauß hielt und dann sah, wie die Blüten sich wieder aufrichteten.
Das hatte sie damals regelrecht entsetzt; sie wagte nicht mehr, anderen die Hand zu geben, eine Blume anzufassen, überhaupt etwas Organisches zu berühren – aus Angst, das Berührte könnte sich unter ihren Händen verändern. Aber dann, nach der ersten Betroffenheit, begann sie, das Schicksal, oder was immer es sein mochte, herauszufordern. Vor fünf Jahren geschah es, daß ihr Vater, bisher ein sportlicher und gesunder Mensch, der gern wanderte, mit seiner Familie per Rad durch das Münsterland fuhr und in den Schulferien an der Nordsee, meistens auf der Insel Norderney, stundenlange Strandläufe absolvierte – daß Stefan Doerinck sich plötzlich unwohl fühlte, ins Bett legte und nach
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