Die strahlenden Hände
seinem Hausarzt Dr. Hambach verlangte.
Der alte Hambach kam sofort, von Ljudmila alarmiert, und stellte bei Stefan Doerinck eine Gürtelrose fest. Allerdings sagte er Herpes Zoster, schmierte den Patienten mit einer Zinkpaste ein und gab ihm gegen die Nervenschmerzen ein Moroxydin-Präparat.
Es half wenig. Doerinck fieberte, die neuritischen Schmerzen ließen ihn stöhnen. Dr. Hambach verkündete die alte Weisheit, Krankheiten brauchten nun mal ihre Zeit, und vor allem die von der Gesundheit verwöhnten Patienten seien die schlimmsten … Dann kam der Abend, an dem sich Corinna an das Bett ihres Vaters setzte, die Hände ausstreckte und in ihren Fingerspitzen fühlte, daß der Kampf begonnen hatte.
Sie sprach mit ihrem Vater, lenkte ihn dadurch ab und ließ ihre Hände zehn Zentimeter über seinem Brustkorb kreisen. Nur drei Minuten waren es, drei für sie lange Minuten, in denen sie das Gefühl hatte, jemand sauge ihr das Rückenmark aus den Knochen. Dann ließ sie die Hände sinken und sah, daß ihr Vater eingeschlafen war. Sie mußte hinterher vier Zigaretten rauchen.
Am nächsten Morgen saß er im Bett, verlangte die Zeitung, Kaffee und ein Brötchen mit Landleberwurst. Der sofort wieder alarmierte Dr. Hambach stellte erstaunt fest, daß über Nacht eine ›dramatische Besserung‹ – wie er es nannte – eingetreten war und sagte stolz: »Es geht eben nichts über die gute alte Zinksalbe!«
Noch viermal strich Corinna über den Körper ihres Vaters, bis ihre Fingerspitzen den Gegner nicht mehr spürten. Sie selbst betrachtete fassungslos ihre Hände und begriff mit einem Würgen im Hals, daß etwas in ihr war, das sie außerhalb der ›normalen‹ menschlichen Gesellschaft stellte.
*
Ljudmila und Stefan Doerinck saßen nebeneinander auf der Couch, als Corinna das Wohnzimmer betrat. Stefan hielt die Hand seiner Frau fest, als wolle er ihr Kraft geben, doch war es in Wirklichkeit so, daß sie ihn beruhigte mit dieser innigen Berührung. Es schien, als hätten sie die schreckliche Tatsache der tödlichen Krankheit als etwas Natürliches in ihr Leben aufgenommen.
»Wir haben beschlossen, daß Mama sich zum frühestmöglichen Termin operieren läßt«, sagte Doerinck. »Ich werde morgen mit Dr. Willbreit sprechen.«
»Das habe ich gerade getan, Papuschka.« Corinna setzte sich der Couch gegenüber in einen Sessel und legte die Hände gegeneinander. Was es auch ist, dachte sie: Gib mir die Kraft dazu! »Ich habe Mama abgemeldet …«
»Was hast du?« fragte Doerinck ungläubig, ja verständnislos.
»Ich habe Dr. Willbreit gesagt: Mama wird nicht operiert.«
»Bist du verrückt geworden?« sagte Doerinck dumpf. »Mein Gott, Milaschka, sie ist verrückt geworden!«
»Ich werde Mama mit meinen Händen heilen.«
»Total irre …«
»Es ist, als ob ich meinen Vater höre«, sagte Ljudmila leise. »Da kamen die Patienten zu ihm, wollten Pillen und Pülverchen haben, sehnten sich nach komplizierten Instrumenten, warteten auf irgendwelche großen Ereignisse, und was tat er? Er sah sie an, sagte: Leg dich hin – und dann strich er mit der Hand über die Menschen. Die meisten hielten ihn für verrückt …«
»Ich weiß«, nickte Doerinck und schluckte mehrmals. »Ich war ja dabei.«
»Aber sie kamen alle wieder, und die meisten wurden gesund. Viele nannten ihn einen Schamanen, einen Wunderheiler.«
»Hier geht es um Krebs, Ljudmila.« Doerincks Stimme zitterte stark. »Mein Gott, um Krebs! Nicht um hysterisches Kopfzucken …«
»Es geht um Mama«, sagte Corinna einfach. »Es geht darum, daß sie weiterlebt. Länger als ein halbes Jahr … oder ein Jahr … oder zwei Jahre …«
Stefan Doerinck fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare und warf einen verzweifelten Blick auf seine Frau. Aber Ljudmila schwieg und sah ihre Tochter nur mit geweiteten, übernatürlich großen Augen an. Er begriff, daß hier, in diesen Minuten, etwas Unfaßbares geschah, das außerhalb jeglichen Begriffsvermögens lag. Da hielt es ihn nicht länger in dieser Wohnung, er sprang auf und rannte hinaus. Wenig später hörten Ljudmila und Corinna, wie draußen der Motor des Autos ansprang und die Räder des Wagens knirschend durchdrehten, weil er mit Vollgas gestartet wurde und hinaus auf die Straße schoß.
Nach einer knappen Stunde kam Doerinck zurück. Mutter und Tochter saßen noch genauso da, wie er sie verlassen hatte. Ljudmila auf der Couch, Corinna im Sessel. Nur der Aschenbecher neben Corinna war randvoll, quoll bald
Weitere Kostenlose Bücher