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Die Straße

Die Straße

Titel: Die Straße Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cormac McCarthy
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auf mich richtest.
    Okay.
    Wo sind eure Sachen?
    Wir haben nicht viele Sachen.
    Hast du einen Schlafsack?
    Nein.
    Was hast du denn? Ein paar Decken?
    In die ist mein Papa gewickelt.
    Zeig es mir.
    Der Junge rührte sich nicht. Der Mann beobachtete ihn. Er ließ sich auf ein Knie nieder, schwang die Schrotflinte unter dem Arm hindurch nach vorn und stützte sich auf den Schaft. Die Patronen in den Schlaufen des Gurtes waren von Hand geladen, die Hülsenböden mit Wachs abgedichtet. Er roch nach Holzrauch. Pass auf, sagte er. Du hast zwei Möglichkeiten. Es hat ziemliche Diskussionen gegeben, ob wir euch überhaupt suchen gehen sollen. Du kannst hier bei deinem Papa bleiben und sterben, oder du kannst mit mir kommen. Wenn du hierbleibst, musst du dich von der Straße fernhalten. Ich weiß nicht, wie ihr es überhaupt so weit geschafft habt. Aber du solltest mit mir gehen. Damit fährst du am besten.
    Woher weiß ich, dass du wirklich einer von den Guten bist?
    Gar nicht. Das musst du riskieren.
    Bewahrst du das Feuer?
    Ob ich was?
    Ob du das Feuer bewahrst.
    Du bist irgendwie abgedreht, was?
    Nein.
    Bloß ein bisschen.
    Ja.
    Das macht nichts.
    Was ist denn jetzt mit dem Feuer?
    Was, ob ich es bewahre?
    Ja.
    Ja, das tun wir.
    Hast du Kinder?
    Ja, wir haben Kinder.
    Hast du auch einen kleinen Jungen?
    Wir haben einen kleinen Jungen und ein kleines Mädchen.
    Wie alt ist er?
    Ungefähr so alt wie du. Vielleicht ein bisschen älter.
    Und du hast sie nicht gegessen?
    Nein.
    Du isst keine Menschen.
    Nein. Wir essen keine Menschen.
    Und ich kann mit dir kommen.
    Ja.
    Also gut.
    Okay.
     
    Sie gingen in den Wald, der Mann kauerte sich vor die graue, ausgemergelte Gestalt unter der schrägen Sperrholzplatte und betrachtete sie. Sind das alle Decken, die du hast?
    Ja.
    Ist das dein Koffer?
    Ja.
    Er stand auf. Er sah den Jungen an. Geh schon mal zur Straße zurück und warte dort auf mich. Ich bringe die Decken und alles andere mit.
    Was ist mit meinem Papa?
    Was soll mit ihm sein?
    Wir können ihn nicht einfach hier liegen lassen.
    Doch, das können wir.
    Ich will nicht, dass ihn jemand sieht.
    Es ist niemand da, der ihn sehen könnte.
    Kann ich ihn mit Laub zudecken?
    Der Wind wird es wegwehen.
    Könnten wir ihn mit einer von den Decken zudecken?
    Ich mache das. Jetzt geh.
    Okay.
    Er wartete auf der Straße, und als der Mann aus dem Wald kam, trug er den Koffer und hatte die Decken über der Schulter. Er sah sie kurz durch und reichte eine dem Jungen. Hier, sagte er. Leg dir die um. Du frierst. Der Junge machte Anstalten, ihm den Revolver zu geben, doch der Mann wollte ihn nicht nehmen. Den behältst du, sagte er.
    Okay.
    Weißt du, wie man damit schießt?
    Ja.
    Okay.
    Was ist mit meinem Papa?
    Mehr kann man nicht tun.
    Ich glaube, ich möchte ihm auf Wiedersehen sagen.
    Geht das denn?
    Ja.
    Na gut. Ich warte auf dich.
    Er ging in den Wald zurück und kniete sich neben seinen Vater. Wie der Mann es versprochen hatte, war er in eine Decke gehüllt, und der Junge deckte ihn nicht auf, sondern saß nur neben ihm, weinte und konnte nicht damit aufhören. Er weinte lange Zeit. Ich werde jeden Tag mit dir reden, flüsterte er. Und ich werde nichts vergessen. Ganz gleich, was passiert. Dann stand er auf, drehte sich um und ging zur Straße zu-rück.
     
     
    Als die Frau ihn sah, schlang sie die Arme um ihn und hielt ihn fest. Ich freue mich so, dich zu sehen, sagte sie. Manchmal sprach sie mit ihm über Gott. Er versuchte, mit Gott zu reden, aber am besten war es, mit seinem Vater zu reden, und er redete tatsächlich mit ihm und vergaß nichts. Die Frau sagte, das sei schon in Ordnung. Der Atem Gottes, sagte sie, sei sein Atem und werde doch durch alle Zeiten von Mensch zu Mensch weitergegeben.
     
    In den Bergbächen gab es einmal Forellen. Man konnte sie in der bernsteingelben Strömung stehen sehen, wo die weißen Ränder ihrer Flossen sanft im Wasser fächelten. Hielt man sie in der Hand, rochen sie nach Moos. Glatt, muskulös, sich windend. Ihr Rücken zeigte wurmlinige Muster, die Karten von der Welt in ihrer Entstehung waren. Karten und Labyrinthe. Von etwas, das sich nicht rückgängig machen ließ. Nicht wieder ins Lot gebracht werden konnte. In den tiefen Bergschluchten, wo sie lebten, war alles älter als der Mensch und voller Geheimnis.

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