Die Strudlhofstiege
Hand noch der rückwärtige Teil je eines Wagens stets zu sehen waren. Die Polizeivorschrift verlangte damals, daß bei Bedarf immer der erste Wagen in der ganzen Reihe genommen werde; und da sowohl Anfang wie Ende der Kolonne an gewisse Grenzen gebunden blieben, so rückte jene nach, wenn einer abgefahren war; die Wiederkehrenden schlossen dann am Ende an. Das ergab ein von Zeit zu Zeit erfolgendes langsames Überrollen des Fahrdammes durch einen oder mehrere Wagen und zuletzt blieb rechts immer einer stehen, von dem man nicht viel mehr als die Hinterräder noch sehen konnte, während linker Hand ebenfalls ein Wagen um die Ecke hervorkam, aber nur mit dem vorderen Fahrgestell.
Es gehörte dieses gleichmäßige Abfädeln der Wagen dort am Ende der Gasse für Mary zu den Selbstverständlichkeiten und Unbegreiflichkeiten dieser Wohnung hier durch all die Jahre. Es war eine Erscheinung zutiefst verwandt den Tropfen einer Wasserleitung oder den fallenden Perlen eines Rosenkranzes. Und weil die Gasse bis zu dem Standplatz der Wagen und zum ›Kanal‹ hinunter eine beträchtliche Länge hatte, so blieb das Knurren der Motoren bei geschlossenen Fenstern völlig unhörbar. Die Erscheinung war lautlos und das machte ihr Wesen aus; sie war lautlos, völlig gleichmäßig, ruhig; sie war von monumentaler Langweiligkeit und Monotonie; und das machte jetzt auch, in Marys gleitenden Vorstellungen, die Beziehung dieses Bildes zu den Erinnerungen an den Leutnant Melzer aus. Der hatte allerdings doch sehr, sehr lieb lachen können. Das Klingeln des Doktor Negria riß ein paar sprühende Sternchen ins Bild, nicht so ganz unverwandt jenen, die einer sieht, den man auf's Aug' haut. Negria schien heute besonders energisch zu klingeln. Das Mädchen öffnete vor ihm die Türe, aber er trat nicht ein, sondern er drang ins Zimmer, verbeugte sich tief, küßte die Hand, war dabei schon in Vormarsch und Offensive, und das blieb penetrant, auch angesichts seiner zeremoniösen Gemessenheit der Bewegungen, Handküsse, Kratzfüße. Er sah sich im Zimmer um, musterte alles etwas aufgebracht und hatte lautlos sogleich viele Worte gesprochen oder in fluidischer Art ausgestoßen: Nun also. Alles beim Alten, noch immer. Bei der alten Zecke. Bin neugierig, wie lang Sie so noch werden weiterleben wollen. Sinnlose Existenz das, versäumtes Leben. Vorurteile sind Trägheit, weiter nichts, Trägheit ist eine Sünde gegen das Leben. Ein Gegenstand mit Eigenbeweglichkeit, also ein lebendes Wesen zum Unterschied von einem Ding, darf sich der Trägheit nicht überlassen. Die Zecke glaube ich Ihnen auf gar keinen Fall. Gibt's nicht! Laut hatte er nur, schon die Teetasse in der Hand, mitgeteilt, daß die Zerkowitz-Kinder jetzt die Schafblattern hätten und daß es ihm heute zum ersten Mal gelungen sei, den polnischen Legationsrat dort im Tennisklub (ein Herr von Semski) im Single, allerdings ganz knapp, zu schlagen. Im übrigen sah er aus, der Doktor Negria, wie Homer vom unzuverlässigen Lümmel Ares sagt: prangend von Kraft und Gesundheit. Es ist natürlich ganz unmöglich, daß die Entflammung, welche sie da hervorgerufen hatte, auf Mary selbst ohne jede Rückwirkung blieb: mindestens mußte sie ihrer eigenen weiblichen Potenzen noch deutlicher inne werden, und das bedeutete schon die Einladung zu einem Spiel, zur Betätigung frei spielender Kraft. Vor Negria fürchtete sie sich nicht im mindesten, denn sie hielt ihn für im Grunde noch viel dümmer als den Leutnant Melzer der Jugendzeit.
Und sie dachte nicht im entferntesten daran, von diesem schön geebneten oberen Wege abzubiegen, von wo aus man den Blick allezeit hinuntersenken konnte in die Klamm drangvoller Umstände und in des Lebens ungleichmäßig sich durchzwängende Wasser, bald zwischen Blöcken gepreßt hervorschießend, bald wieder einmal in einem tiefen blaugrünen Forellenbecken gesammelt und an dessen Rund in geheimnisvollen Höhlen die überhangende und unterwaschene Wand bespülend. Der Blick dort hinab tat sehr wohl und der Umgang mit einem gleichsam hier herauf gelangten und domestizierten Stückchen solcher Wildheit erhöhte das Behagen, vertrieb zugleich des Behagens Gift, die Langeweile.
Als Negria hörte, daß Oskar in einer halben Stunde kommen werde, klappten seine Augenlider in mißmutiger Zustimmung, und damit drückte er ungefähr aus, daß er dies ohnehin angenommen und gar nicht besser erwartet habe. Was sei von ihr schon zu erwarten, eine ganz banale Person! Aber die
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