Die Strudlhofstiege
sommerlich ruhenden, in »Unterwasserlicht« getauchten Wohnungen in der Nähe des Donaukanals werden mit faszinierender Genauigkeit beschrieben und im Beschreiben gegenwärtig. Da scheint die Zeit – für glückhafte Augenblicke – stillzustehen, und man wird in die Geschichte hineingezogen wie in ein lebendes Bild voller Geheimnisse.
Als Hauptschauplatz bewährt sich selbstverständlich jenes Bauwerk, das dem Roman seinen Namen lieh. Die Strudlhofstiege ist in der Tat eine vielstufige Treppe: ein Monument zarten Jugendstils, eine barocke Lebensbühne und nicht zuletzt eine »Brücke zwischen zwei Reichen. Es ist, als stiege man durch einen verborgenen Eingang in die schattige Unterwelt des Vergangenen …«
Rechte Distanz ist Voraussetzung richtigen Sehens, das Flüchtige der Erscheinungen festzuhalten bedarf es gleichwohl mehr. Bei Heimito von Doderer und der Strudlhofstiege war es die Kraft liebenden Schauens. Das melancholische Gedicht »Auf die Strudlhofstiege zu Wien«, das dem Roman als Motto dient und in eine Steinplatte der Stiege gemeißelt ist, endet mit den Versen: »Viel ist hingesunken uns zur Trauer/ und das Schöne zeigt die kleinste Dauer.« Wie tröstlich, daß gerade Doderers »Strudlhofstiege« – immer wieder auftauchend aus der Tiefe der Jahre – das düstere Verdikt widerlegt.
Zeittafel
1896 Heimito von Doderer wird am 5. September als Sohn eines Baumeisters in Weidlingau bei Wien geboren.
1916 Als junger k. u. k. Offizier gerät er in russische Kriegsgefangenschaft und muß vier Jahre in Sibirien verbringen.
1921/25 Studium der Geschichte in Wien; Promotion zum Dr. phil. mit einer Arbeit zur spätmittelalterlichen Quellenkunde. Anschließend entschließt sich der 29jährige zu einer Existenz als ›freier Schriftsteller‹.
1923 Ein erster Gedichtband erscheint unter dem Titel »Gassen und Landschaft«.
1924 »Die Bresche«, Roman.
1930 »Das Geheimnis des Reichs«, Roman. »Der Fall Gütersloh«, Essay (mit neuem Vorwort 1960 wiederveröffentlicht) . 1933/38 Doderer wird Mitglied der in Österreich illegalen NSDAP, läßt sich aber nach dem Anschluß 1938 aus den Mitgliederlisten streichen.
1937 »Julius Winkler«, Essay.
1938 Der Roman »Ein Mord, den jeder begeht« erscheint, mit dem der Autor überregional bekannt wird.
1940 »Ein Umweg«, Roman.
1940/45 Als Offizier der Luftwaffe nimmt Doderer am 2. Weltkrieg teil.
1946 Rückkehr nach Wien aus englischer Kriegsgefangenschaft.
1950 Mitglied des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung.
1951 »Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre«, Roman. Der Erfolg dieses Werkes ermöglicht es dem Autor endlich, wirklich als ›freier Schriftsteller‹ zu leben. Außerdem erscheint der Roman »Die erleuchteten Fenster oder die Menschwerdung des Amtsrates Julius Zihal«.
1952 Doderer heiratet zum zweitenmal; eine frühere Ehe war schon nach kurzer Zeit wieder geschieden worden.
1953 »Das letzte Abenteuer«, Novelle.
1954 Literaturpreis des Kulturkreises im Bundesverband der Deutschen Industrie.
1956 Der Roman »Die Dämonen« erscheint, an dem Doderer seit 1931 gearbeitet hatte.
1957 »Ein Weg im Dunkeln«, Gedichte.
1958 »Die Posaunen von Jericho«, Erzählung. Heimito von Doderer erhält den Großen Österreichischen Staatspreis und die Pirckheimer-Medaille der Stadt Nürnberg.
1959 »Grundlagen und Funktion des Romans«, Essay. »Die Peinigung der Lederbeutelchen«, Erzählungen.
1960 Eine Werkauswahl erscheint unter dem Titel »Wege und Umwege«.
1961 Doderer erhält den Preis der Stadt Wien und wird zum korrespondierenden Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung berufen.
1962 »Die Merowinger oder die totale Familie«, Roman.
1963 Der erste Teil des als Tetralogie angelegten »Roman No 7« erscheint unter dem Titel »Die Wasserfälle von Slunj«.
1964 Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. – »Tangenten. Tagebuch eines Schriftstellers 1940–1950«.
1966 »Unter schwarzen Sternen«, Erzählungen. »Meine 19 Lebensläufe und 9 andere Geschichten« (Festgabe zum 70. Geburtstag des Autors). »Heimito von Doderer liest aus seinem Roman-Fragment Der Grenzwald (Roman No 7, II. Teil)«, Schallplatte. Am 23. Dezember stirbt Heimito von Doderer in Wien.
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