Die stumme Bruderschaft
es steht von mir geschrieben, dass die, welche mich gesehen haben, nicht an mich glauben werden, auf dass die, welche mich nicht gesehen haben, glauben und leben mögen in Ewigkeit!
Was aber das anbetrifft, darum du mir schriebst, dass ich zu dir kommen soll, so sage ich dir: Es ist nötig, dass alles, um dessentwillen ich in die Welt gekommen bin, an diesem Orte an mir erfüllt werde, und dass ich, nachdem dies alles an mir erfüllt sein wird, zu dem aufsteigen werde, von dem ich ausgegangen bin.
So ich in den Himmel werde aufgenommen sein, da werde ich einen Jünger zu dir senden, damit er deine Krankheit heile und dir und allen, die bei dir sind, die wahre Gesundheit gebe! « [2]
»Der Nazarener wird dich heilen, mein König.«
»Aber wie kannst du so sicher sein?«
»Du musst glauben; wir müssen glauben und abwarten.«
»Abwarten … Siehst du nicht, wie die Krankheit mich allmählich besiegt? Jeden Tag fühle ich mich schwächer, und bald werde ich mich nicht einmal mehr vor dir zeigen können. Ich weiß, dass meine Untertanen tuscheln und meine Feinde lauern, und man raunt sogar Maanu, unserem Sohn, zu, dass er bald König sein wird.«
»Deine Stunde ist noch nicht gekommen, Abgarus. Das weiß ich.«
4
Minervas melodiöse Stimme kam, von Störungen unterbrochen, aus dem Handy.
»Leg auf, ich ruf dich zurück, wir sind im Büro.«
Das Dezernat für Kunstdelikte hatte zwei Büros auf der Wache der Carabinieri, sodass Marco und sein Team über einen eigenen Arbeitsplatz verfügten, wenn sie nach Turin kamen.
»Also, dann erzähl mal, Minerva«, bat Sofia ihre Kollegin, »der Chef ist nicht da, er ist früh aufgestanden und in die Kathedrale gegangen. Er hat gesagt, er werde fast den ganzen Vormittag dort bleiben.«
»Aber er hat sein Handy ausgeschaltet, es schaltet sich immer nur die Mailbox ein.«
»Ja, in letzter Zeit ist er irgendwie komisch, aber du weißt, dass er seit Jahren behauptet, dass jemand das Grabtuch vernichten will. Manchmal glaube ich, er hat Recht. Italien hat so viele Kirchen und Kathedralen, und immer trifft es die von Turin. Wenn ich mich recht erinnere, gab es jetzt schon ein halbes Dutzend Diebstähle, mehrere Brände, mal größer, mal kleiner – alles zusammen jedenfalls so viele Vorfälle, dass es jedem die Laune verhageln würde. Und dann ist da noch die Sache mit den Stummen. Du musst zugeben, es ist grauenhaft: Schon wieder eine Leiche ohne Zunge und ohne Fingerabdrücke – das heißt, schon wieder ein Mann ohne Identität.«
»Marco hat mich gebeten, nach einer Sekte zu suchen, zu deren Spezialität es gehört, Zungen herauszuschneiden. Er hat gesagt, ihr wärt zwar Historiker, aber irgendetwas würdet ihr übersehen. Ich habe nichts dergleichen finden können. Dafür weiß ich jetzt, dass die Firma, die die Renovierungsarbeiten durchführt, schon seit über vierzig Jahren in Turin tätig ist und dass sie reichlich zu tun hat. Ihr größter Kunde ist die Kirche. In diesen Jahren hat sie in fast allen hiesigen Klöstern und Kirchen neue Stromleitungen installiert. Und das Haus des Kardinals umgebaut. Es ist eine Aktiengesellschaft, aber einer der Aktionäre ist ein hohes Tier, er mischt überall mit, Flugzeugbau, chemische Produkte … kurzum, diese Renovierungsfirma ist peccata minuta für ihn.«
»Wer ist das?«
»Umberto D’Alaqua, ständig auf den Seiten der Wirtschaftszeitungen. Ein Finanzhai und Aktionär bei jeder Menge Firmen, die irgendwann mit der Kathedrale von Turin zu tun hatten. Manche davon gibt es inzwischen nicht mehr. Du wirst dich erinnern, dass der Brand von 1997 nicht der erste war. Denk nur an September 1983, ein paar Monate später trat das Haus Savoyen das Grabtuch offiziell an den Vatikan ab. In dem Sommer hatte man angefangen, die Fassade der Kathedrale zu reinigen, der Turm war komplett eingerüstet. Niemand kennt die näheren Umstände, aber plötzlich wurde ein Brand gemeldet. Umberto D’Alaqua war auch an dem damals beauftragten Unternehmen beteiligt. Und erinnerst du dich an die Rohrbrüche auf dem Platz vor der Kathedrale und in den umliegenden Straßen, als das Pflaster erneuert wurde? D’Alaqua hat auch von diesem Unternehmen Aktien!«
»Jetzt übertreib mal nicht. Es ist doch nicht ungewöhnlich, dass dieser Mann Aktien von Turiner Firmen hat. Da ist er wohl kaum der Einzige.«
»Mit Übertreibung hat das nichts zu tun. Ich lege nur die Fakten dar. Marco will alles wissen, und dabei ist mir mehrfach der Name
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