Die stumme Bruderschaft
zu erkennen: SN AZARE.«
»Was man als NEAZARENUS entziffern könnte.«
»Oben stehen noch weitere Buchstaben, IBER …«
»Manche glauben, wenn man die Buchstaben ergänzt, heißt das TIBERIUS.«
»Und die mikrofotografischen Untersuchungen?«
»Die Vergrößerungen zeigen Kreise über den Augen, vor allem auf dem rechten kann man eine Münze erkennen.«
»Das war damals üblich, um die Augen der Toten geschlossen zu halten.«
»Und was steht darauf …«
»Manche sagen, wenn man die Buchstaben zusammenfügt, ergeben sich die Worte TIBEPIOY CAICAROC, Tiberius Caesar. Das ist die Inschrift der Münzen, die zur Zeit von Pontius Pilatus geprägt wurden; sie waren aus Bronze und in der Mitte trugen sie den Prophetenstab.«
»Du bist eine gute Historikerin, und deshalb hältst du nichts für sicher.«
»Marco, darf ich dir eine persönliche Frage stellen?«
»Wenn nicht du, wer dann?«
»Bist du gläubig? Ich meine, wirklich. Katholisch sind wir alle, wir sind schließlich Italiener, und von dem, was man dir von klein auf beibringt, bleibt immer etwas hängen. Aber wirklich zu glauben ist etwas anderes, und mir kommt es so vor, Marco, als würdest du glauben, als wärst du überzeugt, dass der Mann auf dem Tuch Christus ist, und es ist dir egal, was die wissenschaftlichen Berichte sagen; du glaubst.«
»Tja, die Antwort ist kompliziert. Ich weiß nicht genau, woran ich glaube und woran nicht; ich könnte dir ein paar Dinge aufzählen, die keiner verstandesmäßigen Überprüfung standhalten. Jedenfalls entspricht mein Glaube nicht dem, was in der Kirche gepredigt wird. Dieses Tuch hat etwas Besonderes, etwas Magisches, wenn du so willst, es ist nicht nur ein Stück Stoff. Ich spüre, dass da mehr dahinter ist.«
Sie schauten schweigend auf das Leinentuch mit dem Bild eines Mannes, der dieselben Qualen erlitten hatte wie Jesus. Nach den Analysen und den anthropometrischen Messungen von Professor Judica-Cordiglia wog er etwa achtzig Kilo, war 1,81 groß und seine Merkmale ließen keine Rückschlüsse auf eine konkrete Volksgruppe zu.
Die Kathedrale war für die Öffentlichkeit gesperrt. Sie würde das auch noch eine Zeit lang bleiben und das Grabtuch würde wieder im Tresor der Nationalbank untergebracht. Marco hatte sich dafür ausgesprochen und der Kardinal war einverstanden. Das Grabtuch Christi war der wertvollste Schatz der Kathedrale, eine der großen Reliquien der Christenheit, und so, wie die Dinge standen, war sie im Innern der Bank besser geschützt.
Sofia drückte Marcos Arm; er sollte sich nicht alleine fühlen und wissen, dass sie an ihn glaubte. Sie bewunderte ihn, weil er so integer war, sie wusste, dass hinter der rauen Fassade ein sensibler Mann steckte, der immer bereit war zuzuhören, bescheiden, es machte ihm nichts aus anzuerkennen, dass andere mehr wussten als er, so sicher war er seiner selbst, dass nichts seine Autorität schmälern konnte.
Wenn sie über die Echtheit eines Kunstwerks diskutierten, zwang Marco den anderen nie seine Meinung auf. Er hörte sich auch die der anderen aus dem Team an, und Sofia wusste, dass er ihr ganz besonders vertraute. Vor ein paar Jahren hatte er sie immer liebevoll »Superhirn« genannt, wegen ihres akademischen Curriculums: Doktor der Kunstgeschichte, Magister in klassischer und italienischer Philologie, sie sprach fließend Englisch, Französisch, Spanisch und Griechisch, und weil sie allein lebte, hatte sie auch Zeit gefunden, Arabisch zu lernen; sie beherrschte es nicht gut, aber sie verstand das meiste und konnte sich einigermaßen verständlich machen.
Marco sah sie von der Seite an und fühlte sich von ihrer Geste getröstet. Er dachte, was für eine Schande es war, dass eine Frau wie sie keinen passenden Partner gefunden hatte. Sie war hübsch, sehr hübsch, aber sie war sich ihrer Anziehungskraft überhaupt nicht bewusst. Blond, blaue Augen, schlank, sympathisch und außergewöhnlich intelligent. Paola hatte immer einen Mann für sie finden wollen, aber ohne Erfolg, die Männer fühlten sich in ihrer Gegenwart von ihrer Überlegenheit erdrückt. Er verstand nicht, wie eine Frau wie sie eine dauerhafte Beziehung mit dem gutmütigen Trottel Pietro haben konnte, aber Paola sagte, für Sofia sei es so am bequemsten.
Pietro war als Letzter in das Team gekommen. Er war seit zehn Jahren im Dezernat. Er war ein guter Ermittler. Gründlich, misstrauisch, ihm entging kein Detail, auch wenn es noch so geringfügig war. Er hatte viele Jahre im
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