Die stumme Bruderschaft
Stärke, Sanftmut, Standfestigkeit, Milde.
Er glaubte an Jesus, er glaubte, dass er Gottes Sohn war, nicht nur wegen der Wundertaten, die er gesehen hatte, nein: Wenn Jesus’ Blick auf einem ruhte, konnte man spüren, dass dieser Blick alles Menschliche überstieg und zugleich bis in das Innerste eines jeden vordrang.
Aber dieser Jesus wollte nicht, dass man sich dessen schämte, was man war, seine Augen waren voller Verständnis, voller Vergebung.
Josar liebte Abgarus, seinen König, weil er ihn immer wie einen Bruder behandelt hatte. Er verdankte ihm seine Stellung und sein Vermögen, aber wenn Jesus die Einladung von Abgarus nach Edessa nicht annahm, würde Josar seinen König um Erlaubnis bitten, nach Jerusalem zurückzukehren und sich dem Nazarener anzuschließen. Er war bereit, auf sein Vermögen und seinen Wohlstand zu verzichten. Er würde Jesus folgen und nach seiner Lehre leben. Ja, er hatte sich entschieden.
Josar ritt zum Haus eines Mannes, Samuel, bei dem er für ein paar Heller nächtigen und seine Pferde unterstellen konnte. Sobald er sich eingerichtet hätte, würde er losziehen, um nach Jesus zu fragen. Er würde zu Markus gehen oder zu Lukas, und sie würden ihm sagen, wo Jesus zu finden war. Es würde schwierig werden, Jesus zu überzeugen, sich nach Edessa zu begeben, aber er, Josar, würde anführen, dass die Reise nur kurz sei und er zurückkehren könne, sobald sein Herr geheilt sei, sofern er sich nicht zum Bleiben entschloss.
Auf dem Weg von Samuels Haus zu Markus kaufte Josar bei einem armen Hinkenden ein paar Äpfel und fragte nach den Neuigkeiten aus Jerusalem.
»Was soll ich dir erzählen, Fremder? Jeden Tag geht im Osten die Sonne auf und im Westen unter. Die Römer … Du bist nicht zufällig Römer? Nein, nein, du bist nicht wie sie gekleidet und sprichst auch nicht wie sie. Die Römer haben uns zum Ruhme des Kaisers die Steuern erhöht, und deswegen fürchtet Pilatus einen Aufstand und versucht, sich bei den Priestern des Tempels einzuschmeicheln.«
»Was weißt du von Jesus, dem Nazarener?«
»Ah! Auch du willst etwas über ihn wissen. Du bist doch nicht etwa ein Spion?«
»Nein, guter Mann, ich bin kein Spion, nur ein Reisender, der von den Wundern des Nazareners weiß.«
»Wenn du krank bist, kann er dich heilen, viele behaupten, nur durch das Auflegen der Hand des Nazareners gesund geworden zu sein.«
»Glaubst du daran?«
»Herr, ich arbeite von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, kümmere mich um meinen Garten und verkaufe Äpfel. Ich habe eine Frau und zwei Töchter, die ich ernähren muss. Ich erfülle alle Gebote, um ein guter Jude zu sein, und ich glaube an Gott. Ob der Nazarener der Messias ist, wie sie behaupten, weiß ich nicht, dazu sage ich weder ja noch nein. Aber du sollst wissen, Fremder, dass die Priester ihm nicht wohlgesinnt sind und die Römer auch nicht, weil Jesus ihre Macht nicht fürchtet und die einen wie die anderen herausfordert. Man legt sich nicht ungestraft mit den Römern und den Priestern an. Mit diesem Jesus wird es ein schlechtes Ende nehmen.«
»Weißt du, wo er ist?«
»Er zieht mit seinen Jüngern umher, aber er verbringt auch viel Zeit in der Wüste. Ich habe keine Ahnung, aber du kannst den Wasserverkäufer da an der Ecke fragen. Er ist einer seiner Anhänger, vorher war er stumm, und jetzt kann er sprechen, der Nazarener hat ihn geheilt.«
Josar spazierte durch die Stadt, bis er zu Markus’ Haus kam. Dort sagte man ihm, wo er Jesus finden könnte: Er predigte an der Südmauer vor einer Menge.
Er erkannte ihn sofort. Der Nazarener, nur mit einer einfachen Tunika bekleidet, sprach zu seinen Anhängern mit einer festen, aber unglaublich sanften Stimme.
Josar spürte den Blick von Jesus auf sich. Er hatte ihn gesehen, er lächelte und winkte ihn zu sich. Jesus umarmte ihn und for derte ihn auf, sich neben ihn zu setzen. Johannes, der jüngste unter seinen Jüngern, machte ihm Platz, damit er sich neben den Meister setzen konnte.
So verbrachten sie den Morgen, und als die Sonne im Zenit stand, verteilte Judas, auch einer von Jesus’ Jüngern, Brot, Feigen und Wasser unter den Anwesenden. Sie aßen schweigend und in Frieden. Jesus stand auf, um sich auf den Weg zu machen.
»Herr«, flüsterte Josar ihm zu, » i ch habe eine Nachricht für dich von meinem König, Abgarus von Edessa.«
»Und was möchte Abgarus, mein guter Josar?«
»Er ist krank, Herr, und er bittet dich, ihm zu helfen. Auch ich bitte dich darum, denn
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