Die Stunde der Seherin - Historischer Roman
dem er doch entsagen wollte.
Von zwei Seiten gestützt, wurde sie weggeführt, und er sah ihr nach, immer noch fassungslos über den Kuss, den sie hatte geschehen lassen. Da drehte sie sich noch einmal zu ihm um, bedeutete ihren Frauen anzuhalten, doch die drängten sie weiter, zum trockenen Ufer hin, von wo noch mehr Menschen auf sie zuliefen. Sein Mantel, voll nassem Schmutz und Schilfblättern, umfing ihre schlanke Gestalt wie ein Versprechen, im Gedränge auf sie achtzugeben. Ihr Lächeln auf dem tränenüberströmten Gesicht wärmte sein Herz und überstrahlte die grausige Kulisse.
»Hier, für dich.« Ein Mann in Dienerkleidung drückte ihm etwas in die Hand. »Für die Rettung, und Gott segne dich dafür, lässt die Dame Agatha ausrichten.«
»Wer ist sie?«, fragte Nial, ohne den Blick von dem Mädchen zu lassen. Der Diener zog die Brauen hoch. »Das ist Christina, die Tochter von Prinz Edward, welcher einst König von England werden sollte und dann leider starb. Ihre Mutter ist die Dame Agatha.«
Die Namen verwirrten Nial. Weder fiel ihm ein, wer Prinz Edward war, noch wusste er, wer jetzt König in England war. Es spielte keine Rolle, dass er eine Prinzentochter gerettet hatte. Er wusste nur, dass er das Mädchen Christina schon jetzt schmerzlich vermisste. Der Ring, den man ihm als Belohnung überreicht hatte, fiel ihm aus der Hand. Nials Füße schienen auf dem Fleck festgewachsen zu sein, wo er stand – festgewachsen für alle Zeiten. Wohin sollte er auch gehen, jeder Weg ohne sie schien sinnlos zu sein.
Sie wurde immer kleiner, war zwischen den beiden Frauen kaum noch zu erkennen. Doch ihr offenes Haar schlug im Wind hin und her, als winkte es ihm zu. Sie hatte ihn ins Mark getroffen.
Und weil er immer noch wie verzaubert stehen blieb, wurde er Zeuge, wie das Ufer von einem Pulk Reiter eingenommen wurde, die mit angelegten Waffen auf die Schiffbrüchigen zupreschten.
Die Mutter hatte sie lange umarmt und geküsst und Gott immer wieder gedankt, dass er ihr Mädchen gerettet hatte. »So lange haben wir dich gesucht, Edgar ist sogar noch einmal ins Wasser gestiegen und hat mit ein paar Männern das Schilf durchsucht«, schluchzte sie. »Dein Bruder hat viele Menschen aus dem Wasser gezogen. Er ist ein wahrer Held.« Sie lächelte unter Tränen, voll Stolz auf ihren jüngsten Sohn. Christina strich ihrer Mutter beruhigend über das immer noch volle Haar. Sie war einst eine Schönheit gewesen, doch Sorgen und Trauer hatten sie immer magerer und kleiner werden lassen. Im Lauf der Jahre hatte sich ihr tiefschwarzes Haar in eine dünne weiße Wolke verwandelt, welche sie stets unter einer Haube verbarg. Jetzt hing es ihr traurig und nass auf die krummen Schultern, und Christina drehte es zärtlich zu einem Knoten, damit es ihr nicht feucht im Nacken hing. Ein Haarband, irgendwer musste doch ein Band oder eine Haarnadel für die Mutter haben. Ein törichter Gedanke, wo andere das Unwetter nicht einmal überlebt hatten. Doch dieser Gedanke hatte ein Ziel – Mutters frisierte Haare –, und vielleicht würde er ein glückliches Lächeln auf ihr Gesicht zaubern. Und so fand sie ihn dann doch nicht so töricht. Suchend drehte sie sich zu den Frauen um, die hilflos herumstanden und nicht wussten, wohin sie gehen und was sie tun sollten – durchnässt, hungrig und orientierungslos standen sie am Strand, von dem sie nicht mal wussten, in welchem Land er lag.
»Ja, Mutter, Edgar ist ein Held«, bestätigte sie, obwohl sie diese Ansicht eigentlich nicht teilte. Doch ihre Worte und das Frisieren taten Agatha gut; sie entspannte sich und wollte tatsächlich ein Lächeln versuchen. In diesem Augenblick begann der Boden unter ihnen zu dröhnen, weil ein ganzes Heer den Hügel herabstürmte. Christina traute ihren Augen nicht. Der Wind hatte das Nahen der Reiter heimtückisch bis zuletzt vor ihnen verborgen, und nun gab es kein Entrinnen mehr.
»Habt Mitleid!«, schrie Agatha und fiel vor dem ersten Reiter auf die Knie. Christina drehte sich um und rannte zurück zu ihr. »Mutter, bist du närrisch?« Im allerletzten Moment konnte sie die in Panik geratene Frau aus der Gefahrenzone ziehen, schleifte sie durch den Sand und warf sie neben das Pferd. Es scheute vor der hastigen Bewegung und stieg schreiend neben ihnen hoch. Die Hufe schleuderten Schlammklumpen in die feuchte Morgenluft. Wie kleine, bösartige Geschosse prasselten sie auf die Frauen nieder, trafen sie am Kopf, im Gesicht. Christina duckte sich über
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