Die Stunde der Seherin - Historischer Roman
und ihr dafür seine Wärme gebracht hatte. Und weil er über diese Worte zu strahlen begann, streckte sie die Arme aus und ließ sich von ihm aus dem Schlamm ziehen. Als er versuchte, sie hochzuheben, landete sie halb auf seinem Rücken.
»He!«, protestierte sie, worauf er sie umgehend freigab und in den Schlamm zurückgleiten ließ.
»Vergebt … vergebt, vergebt …« Er versuchte es erneut, diesmal anders, einen Arm in ihrem Rücken, den anderen um ihre Beine, doch sie rutschte ihm aus den Händen und landete ein weiteres Mal im Schlamm. Sein entsetztes Gesicht nahm ihr den Ärger. Ihr hilfloser Retter rührte ihr Herz, und so streckte sie wie ein Kind die Hände nach ihm aus, und diesmal fand er den richtigen Griff. Sie war viel kleiner als die meisten Frauen und fügte sich perfekt in das schützende Nest seiner Arme.
»Vergebt meine Ungeschicklichkeit, ich habe so etwas lange nicht mehr gemacht«, murmelte er. Auf seiner Stirn erschienen Falten, weil er die Brauen zur Mitte hochzog, vielleicht weil er nicht wusste, was er als Nächstes tun sollte. Einem Impuls folgend, streckte Christina die Hand aus und strich über diese Falten. »Ihr denkt zu viel.« Sie lächelte. »Rettet mich doch einfach.« Die Falten vertieften sich. Sein Antlitz färbte sich tiefrot, dann hastete er ohne Erwiderung los. Statt zu fragen, wohin er eilte, umfasste sie ihn und legte den Kopf an die kräftige Schulter, während er wie ein Storch durch den fast knietiefen Uferschlamm stakste. Inzwischen keuchte er vor Anstrengung, umklammerte sie aber immer fester. Und seltsam … sie war froh, so fest gehalten zu werden. Es fühlte sich gut an, nachdem sie so viele Stunden alleine gewesen war. Waren es Stunden gewesen? Sie wusste es nicht. Und jetzt spielte es auch keine Rolle mehr. Verstohlen steckte sie die Nase an seinen Hals, wo unter feinen Falten seine Ader wild pochte.
»Ich sah das Schiff, die zerstörten Reste, ich sah Eure Leute – das sind doch Eure Leute?« Er schluckte hastig, bevor er weitersprach. Ihr Finger hatte ein Brandmal in seinem Gesicht hinterlassen, ob ihr das klar war? Jeder würde es sehen, würde auch sein schamloses Begehren sehen, welches er fühlte, seit er das Mädchen in diesem Schlammloch entdeckt hatte … er verbot sich weitere Gedanken. »Der Sturm … der Sturm letzte Nacht hat Bäume umgeknickt, und die Wellen brandeten bis weit in die Bucht hinein, sie fraßen tiefe Löcher ins Ufer und rissen Teile unserer Hütten hinweg.« Wieder hielt er an und holte tief Luft, weil ihn das Reden beim Laufen anstrengte. Er war kein Held, der Frauen mühelos über Felsschluchten trug, und sie sah aus, als wüsste sie das. »Ich … ich hörte auch, wie Euer Schiff zerbrach. Doch Gottes Zorn war so groß, dass ich nicht wagte nachzusehen …« Er hastete weiter. Plötzlich schämte er sich für dieses feige Versäumnis, weil sie ja wohl auf dem Schiff gewesen war.
»Ihr habt aber doch nachgesehen«, unterbrach das Mädchen ihn lächelnd. »Und Ihr habt mich gefunden.« Ihre Augen waren so nah und merkwürdig vertraut, obwohl sie sich doch gerade erst kennengelernt hatten. Ihr Angelsächsisch hatte einen hinreißend rollenden Akzent, doch er wagte nicht zu fragen, woher sie kam. Sie war ihm vor die Füße gefallen, vielleicht hatte der Himmel sie dort abgelegt …
Er blieb verzaubert stehen. »Ja. Das habe ich. Ich habe Euch gefunden.« Dann schloss er den Mund, aus Angst, etwas wirklich Falsches zu tun, und schaute sie nur noch an.
»Gut«, flüsterte sie. In seiner Brust machte sich ein Ziehen bemerkbar, und das nahm ihm die Luft. Vielleicht sah er besser woanders hin – was schwierig war, weil er sie doch so fest an sich gedrückt hielt und eigentlich nur in ihr Gesicht schauen konnte. »Gut«, wisperte sie und lächelte dabei ein wenig hilflos. Das Ziehen breitete sich in ihm aus.
»Wie ist Euer Name?«
»Nial«, stammelte er.
»Nial«, flüsterte sie. Sie sprach seinen Namen anders aus – wunderbar anders. Er schauderte, dachte daran, ihr seine anderen Namen zu nennen, den seines Vaters und den Namen des Ortes im Hochland von Moray, wo er herstammte, nur um zu hören, wie sie das aussprechen würde. Doch sie hatte genug Freude an seinem Namen. »Nial«, wiederholte sie entzückt. »Nial. Danke, Nial«, raunte sie an sein Ohr. Dann schlang sie ihm den freien Arm um den Hals, und weil er just in diesem Augenblick den Kopf drehte, verrutschte ihr offenbar für die Wange gedachter Kuss auf seinen Mund.
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