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Die Stunde der toten Augen

Die Stunde der toten Augen

Titel: Die Stunde der toten Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Thürk
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griff er unter den Mantel und holte aus der linken Wadentasche eine kleine Metallflasche mit Kognak. Er schraubte sie auf und hielt sie Bindig vor die Nase.
    „Da... sauf!" sagte er. „Wir haben noch viel vor heute nacht!" Bindig trank das scharfe Getränk, und er spürte, wie es ihm brennend durch die verschlossene, zusammengepreßte Kehle rann. Die Tränen traten ihm in die Augen, und er begann durch den trüben Schleier der Tränen wieder den Nachthimmel zu sehen, die kahlen Bäume und die Sträucher und den mattsilbernen Schienenstrang. Er wischte sich mit dem Ärmel des Mantels über das Gesicht. Der Mantel roch nach Holzrauch und Schmieröl, und die Nachtluft, die Bindig tief einatmete, war plötzlich wieder klar und kalt. Er gab Zado die Flasche zurück und sagte leise: „Danke."
    „Geht's wieder?" erkundigte sich der andere.
    Bindig nickte. Er faßte den Riemen des Gewehres fester und merkte, daß der Boden unter den Füßen wieder fest war. „Es geht", sagte er heiser. Er stieß den Atem aus in einer grauen, zerflatternden Wolke, die sich in der Kälte der Luft auflöste. „Es war der Tote", sagte er. „Als ich es tat, war ich ganz ruhig. Aber jetzt... es ist immer so. Du weißt, daß ich keine Memme bin. Aber nachher packt es mich immer so..." Zado ging mit seinen tänzelnden Schritten neben ihm her. Er nahm auch einen Schluck aus der Flasche, bevor er sie einsteckte. Er dachte: Der Schnaps ist das einzige, was hilft. Der ganze Krieg ist ein Gemisch von Todesangst und Ekel und Schnaps. „Reiß dich zusammen", sagte er. „Es sind nur die Nerven. Es sind diese verfluchten Nerven. Aber es gibt keinen Menschen ohne Nerven. Ohne Beine kannst du leben. Ohne Nerven nicht. Und nicht ohne Schnaps."
    Sie kletterten den Bahndamm hinab. Vorsichtig wichen sie einem Haufen leerer Konservenbüchsen aus, der zwischen dem Gebüsch und dem Bahndamm lag. Alte, verrostete Büchsen.
    „Meinst du, daß du es machen kannst?" fragte Zado. Er sah Bindig von der Seite an und dachte: Dieser verdammte Ruß! Man kann nicht einmal sehen, ob sein Gesicht bleich ist. Man weiß nicht, ob er nicht vielleicht umfällt, wenn wir die Tür von diesem Bahnwärterhäuschen aufstoßen. Es ist eine unsichere Sache. Man muß genau wissen, ob man sich auf ihn verlassen kann. Es war, als hätte Bindig seine Gedanken erraten. Er schüttelte leicht den Kopf, und er wirkte wieder sehr sicher, als er sagte; „Hab keine Angst. Es ist vorbei. Es geht immer schnell vorbei. Richtig schlimm wird es erst, wenn wir zu Hause sind."
    „Zu Hause?" sagte Zado mürrisch, aber zufrieden, weil der Tonfall in Bindigs Stimme seine Zweifel beseitigte. „Zu Hause schlafen die jungen Mädchen mit den alten Möpsen, weil wir so lange wegbleiben ..."
    „Im Dorf, meine ich. In Haselgarten."
    „Im Dorf ...", brummte Zado angeekelt, „das ganze Dorf kotzt mich an."
    Die Taschenlampe des Unteroffiziers blinkte noch einmal auf und wies ihnen den Weg. Die anderen lagen dicht beisammen in einer Mulde, zwischen kniehohem Gebüsch. Der Unteroffizier erhob sich, als die beiden heran waren. Er sah ihnen in die Gesichter und fragte kurz: „Alles klar?"
    „Alles klar", sagte Zado. „Wie viele stecken in dem Häuschen?"
    „Vier Mann", sagte der Unteroffizier.
    Er führte die Gruppe länger als vier Jahre. Sie kannten ihn. Die ganze Kompanie wußte, daß in Wirklichkeit er das Kommando über die Kompanie hatte, nicht der Leutnant mit dem Kindergesicht und der Kriegsschulweisheit. Er hatte seine eigene Art, mit den Männern umzugehen, und diese Art war in der Heeresdienstvorschrift nicht vorgesehen. Unteroffizier Timm übersah Disziplinlosigkeiten, wenn die Männer im Dorf lagen. Er schützte sie und verschaffte ihnen Ruhe. Er hatte auf alles, was der Leutnant oder die Leute vom Stab an den Männern auszusetzen hatten, nur immer eine Antwort: „Fliegen Sie das nächste Mal mit. Danach sprechen wir weiter über meine Leute." Damit brachte er jeden zum Verstummen, ganz gleich, welchen Dienstgrad er hatte. Er tat das nicht um der Gerechtigkeit willen. Er tat es, weil er vielleicht wenige Tage später wieder auf die Männer angewiesen sein würde. Und weil er sie zu dem gemacht hatte, was sie waren, und weil er auf das Ergebnis seiner Erziehung stolz war.
    Zado öffnete den Mantel und gab einem der anderen das Gewehr. Dann schlug er die Ärmel des Mantels um, damit er seine Hände besser bewegen konnte. Während er die Pistole aus der Tasche zog und sie mit dem dünnen,

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