Die Stunde Der Vampire
Haar hätte vor mindestens einem Monat geschnitten gehört. Sein längliches Gesicht war blass, abgesehen von den Augenringen. Wahrscheinlich war er Mitte vierzig.
Mit der gleichen gelassenen Stimme, die ich von einem halben Dutzend Telefonaten her kannte, sagte er: »Sie entsprechen nicht meinen Erwartungen.«
Das überraschte mich. »Was haben Sie denn erwartet?«
»Jemand Ãlteren, glaube ich. Erfahrener.« Ich wusste nicht recht, ob das als Kompliment oder als simple Feststellung gemeint war.
»Man muss nicht alt sein, um Erfahrungen gesammelt zu haben, Doktor.« Was wusste er denn schon? »Kommen Sie mit nach hinten, dann zeige ich Ihnen das Studio.«
Ich stellte alle einander vor. Dabei versuchte ich, Flemming die Befangenheit zu nehmen; er wirkte nervös, blickte immer wieder über die Schulter und musterte die Mitarbeiter des Senders, als speichere er sie zur späteren Verwendung in einer Art mentalem Klassifikationssystem ab. Ich war mir nicht sicher, ob da sein akademisches Wesen oder sein Regierungshintergrund am Werk war. Er bewegte sich steif und lieà sich auf dem Stuhl, den ich ihm anbot, nieder, als erwarte er, dass er ihm weggezogen würde. Dieser Kerl war wahrscheinlich noch in seinem eigenen Wohnzimmer nervös. Vielleicht war er aber eigentlich entspannt und benahm sich einfach immer so.
Ich zeigte ihm die Kopfhörer und das Mikro, nahm mein eigenes Headset und lehnte mich in meinem Stuhl zurück, endlich ganz in meinem Element.
Der Sendetechniker führte durch die Scheibe zum Regieraum den Countdown durch, und die ersten Gitarrenakkorde der Titelmelodie der Sendung â Creedence Clearwater Revivals »Bad Moon Rising« â ertönten. Es war ganz egal, von wie vielen verschiedenen Sendern aus ich die Show machte, dieser Augenblick fühlte sich immer gleich an: Er gehörte mir. Ich hatte das Mikro, ich war die Verantwortliche, und solange das Rotlicht leuchtete, hatte ich das Sagen. Natürlich nur bis zu dem Zeitpunkt, an dem etwas furchtbar schiefging. Gewöhnlich bewältigte ich die Anmoderation jedoch ohne Krise.
»Guten Abend. Dies ist die Midnight Hour , die Sendung, die keine Angst vor der Dunkelheit oder den Geschöpfen der Nacht hat. Mein Name ist Kitty Norville, und ich bin eure charmante Gastgeberin.
Heute Abend habe ich einen ganz besonderen Gast: Dr. Paul Flemming. Wie ihr vielleicht wisst, hat Dr. Flemming vor etwas mehr als einem Monat eine Pressekonferenz abgehalten, auf der die wissenschaftliche Anerkennung von Wesen verkündet wurde, die früher als mythische, übernatürliche Formen von Menschen galten. Vampire, Werwölfe â ihr wisst schon, Menschen wie ich. Er hat einen M.D. von der Columbia University, einen Ph.D. in Epidemiologie von der Johns Hopkins University, und seit fünf Jahren leitet er das Center for the Study of Paranatural Biology. Herzlich willkommen, Dr. Flemming.«
»Vielen Dank«, sagte er, wobei es ihm gelang, gelassen zu klingen, obwohl er nervös auf der Kante seines Stuhls hockte, als mache er sich bereit davonzulaufen, sobald die Granaten geflogen kämen.
»Dr. Flemming. Das Center for the Study of Paranatural Biology. Gehe ich recht in der Annahme, dass es sich hierbei um eine von Regierungsgeldern finanzierte Organisation handelt, die sich der Erforschung alternativer Spielarten des Menschen widmet, wie Sie es genannt haben? Vampiren, Werwölfen und so weiter?«
»Nur ganz grob formuliert. Der Gegenstand unserer Forschungen ist nicht immer explizit festgelegt gewesen.«
»Sie konnten nicht gerade schreiben, âºGebt mir Geld für Werwölfeâ¹, nicht wahr?«
»Ãhm, nein«, sagte er und schenkte mir den Anflug eines Lächelns.
»Also handelte es sich um ein geheimes Forschungsprojekt der Regierung.«
»So weit würde ich eigentlich nicht gehen. Ich möchte
mich nicht auf das Terrain der Verschwörungstheorien begeben. Die Ergebnisse des Centers sind immer verfügbar gewesen.«
»Allerdings an den ominösesten Stellen. Man hat keinerlei Aufmerksamkeit auf einen möglicherweise explosiven Forschungsbereich gelenkt. Ich hätte gedacht, dass Sie, als Teil des Forschungsteams, Ihre Ergebnisse viel früher hätten öffentlich machen wollen.«
»So einfach ist das nicht. Sie werden nachvollziehen können, dass wir heftige Kritik riskiert hätten, hätten wir zu viel
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