Die Stunde der Zeitreisenden: Hourglass 1
sagen. Es stimmt nicht, dass mit dir was nicht in Ordnung ist.«
Die ganze Situation und seine Nähe machten mich verlegen, und ich wich seinem Blick aus. »Netter Versuch, aber ich bin da anderer Meinung. Nichts für ungut!«
Er seufzte. »Ich weiß, dass du weitere Fragen hast. Warum stellst du sie nicht einfach?«
Nervös zerknüllte ich die Serviette auf meinem Schoß. Michael konnte dieselben Dinge sehen wie ich, aber es machte ihm keine Angst. Er wirkte ruhig und verständnisvoll. Wenn ich mit ihm sprach, konnte ich das beklemmende Gefühl in meiner Brust fast vergessen. Ich wollte ihm vertrauen. Ich wollte ihm Fragen stellen. Ich wollte wissen, warum er das Ganze anders empfand als ich, denn das tat er offensichtlich.
»Wie war es, als du zum ersten Mal eine Vision hattest?«, fragte ich leise.
»Meine Mom hatte dieses Haus im historischen Peachtree District von Atlanta entdeckt. Bürgerkriegszeit.«
Meine gestrige Erfahrung mit Scarlett kam mir in den Sinn, und ich konnte mir ein leises Stöhnen nicht verkneifen. Kurz nachdem ich angefangen hatte, Sachen zu sehen, musste ich mir eine dieser unseligen historischen Bürgerkriegsnachstellungen anschauen, die hier im Süden so beliebt sind. Ich hatte keine Ahnung, wer tot oder lebendig war. Danach mochte ich eine Woche lang mein Zimmer nicht verlassen.
»Die Dinge, die wir sehen … Was sind sie? Ich meine, ich habe keine Ahnung wieso, aber ich habe sie nie für Geister gehalten. Aber ich weiß nicht, was sie sonst sind. Weißt du es?«
Michael kam ein wenig näher. »Ich nenne sie mit ein bisschen Ironie die Zeitlosen. Fast wie Zeitstempel von Leuten, die in ihrem Leben einen großen Eindruck auf der Welt hinterlassen haben.«
»Ist das nicht dasselbe wie ein Geist?«
»Es ist ein bisschen komplizierter als das.«
»Inwiefern?«
»Es ist ziemlich schwer zu erklären«, erwiderte Michael und trommelte mit den Fingern auf dem Tisch. »Es hat etwas mit theoretischer Physik und Zeitrissen zu tun, aber ich bin gern bereit, dir zu erklären …«
Ich hielt die Hand hoch. »Nein, danke. Ich glaube dir auch so. Fürs Erste.«
Ich dachte über seine Definition nach. Sofort kam mir der Mann, den ich gestern gesehen hatte, in den Sinn. Ich war sicher, dass er auf seine Weise Eindrücke hinterlassen hatte. »Hm, Zeitrisse, Risse in der Zeit. Das erklärt zumindest, wieso ich Leute aus der Vergangenheit sehe. Es ergibt einen Sinn, vorausgesetzt, dass etwas so Verrücktes jemals einen Sinn ergeben könnte. Entschuldigung.«
»Du musst dich nicht entschuldigen. Du sollst nicht alles korrigieren, was du sagst.«
»Keine Sorge.« Ich warf ihm einen freudlosen Blick zu. »Das Meiste, was aus meinem Mund kommt, ist die volle Wahrheit. Mein Laufwerk da oben«, ich tippte mir an die Stirn, »ist etwas beschädigt, deshalb ist mein Mundwerk schneller als mein Gehirn.«
»Gut.« Michael lehnte sich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und streckte die langen Beine unter dem Tisch aus. Seine schwarzen Motorradstiefel wirkten riesig neben meinen winzigen Turnschuhen. »Ich bin ein großer Freund der Wahrheit. Ich hasse es, wenn Leute Sachen geheim halten.«
Mit Geheimhaltung kannte ich mich bestens aus.
»Wie viele Leute wissen die Wahrheit über dich?«
»Meine Familie. Hourglass.« Er räusperte sich und drehte den Ring an seinem Daumen herum. »Ein paar gute Freunde. Eine kleine Gruppe Auserwählter.«
Ich fragte mich, ob die Gruppe der Auserwählten eine Freundin beinhaltete. Am liebsten hätte ich nachgefragt, aber dann entschloss ich mich, nicht zu persönlich zu werden. »War es schwer? Ihnen von den Dingen zu erzählen, die wir sehen?«
»Eigentlich nicht. Einige von ihnen haben selbst besondere Fähigkeiten.«
»Dieselben wie wir?« Erschrocken stellte ich fest, dass ich mir wünschte, als Einzige sein Schicksal zu teilen.
»Nein.«
»Aber es gibt also andere Leute, die… spezielle Dinge tun können?«
»Mehr als du vielleicht ahnst«, erwiderte er, ohne den Blick von mir abzuwenden.
»Hmm.« Ich ließ diese Auskunft auf mich wirken und konzentrierte mich auf meine Empanada. Michael ließ mir die Zeit, die ich brauchte, und wandte sich wieder seiner Zeitung zu.
In dem Moment, als ich anfing, diese Sachen … diese Zeitlosen zu sehen, wurde ich zu einem Freak. Dann wurde ich zu einem Freak ohne Eltern. Wenn Kinder zu Waisen werden, kann es sein, dass sie zunächst untergehen, aber nach einer Weile kommen sie wieder an die Oberfläche
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