Die Stunde der Zeitreisenden: Hourglass 1
erhoben Ansprüche auf sie.
»Hoffen wir das Beste!« Nach einigem Wühlen zog sie einen gigantischen Blaubeermuffin aus ihrer Kameratasche und gönnte sich einen Happen.
»Bist du in Eile?«, fragte ich betont beiläufig mit Blick auf die Kameratasche. »Hast du noch ein Shooting?«
»Nur die Sachen von gestern aufräumen und vielleicht ein bisschen retuschieren.« Sie hörte auf, rückwärts vor mir herzugehen, und musterte mich. Zuerst riss sie erstaunt die Augen auf, dann den Mund, wobei sie mir einen großzügigen Blick auf den zerkauten Muffin gewährte. »Sieh mal einer an. So sexy schon am frühen Morgen? Wo willst du hin? Wie war eigentlich die Party?«
Ich überlegte, ob ich ihr von Michael erzählen sollte. Aber dann hätte sie darauf bestanden, die ganze Geschichte zu hören, und was meine Visionen anging, tappte sie so ziemlich im Dunkeln.
»Hab kein bestimmtes Ziel. Und gestern Abend hast du nicht viel verpasst.« Abgesehen von einem Jazztrio, einem zerbrochenen Glas und dem atemberaubendsten Jungen, der je auf Gottes Erde gewandelt ist. »Geh nur. Wir können später quatschen.«
Lily drehte die Hand, in der sie den Muffin hielt, um auf die Uhr zu schauen. Sie kam ungern zu spät, aber ich wusste, wie sehr sie darauf brannte, mich weiter auszufragen. Ich hoffte darauf, dass ihr Hang zur Pünktlichkeit die Oberhand über ihre Neugierde gewann.
»Darauf kannst du wetten«, rief sie über die Schulter, als sie in die Seitenstraße einbog, in der sich das Fotostudio befand.
Das war knapp.
Vor dem Café blieb ich kurz stehen und legte die Hand auf meinen Bauch, um die Schmetterlinge darin zu beruhigen. Ich wusste nicht, was mich nervöser machte, die bevorstehende Diskussion oder die Person, mit der ich mich gleich treffen würde. Beim Öffnen der Tür läutete die vertraute Glocke, und ich schnupperte den verlockenden Duft nach frisch aufgebrühtem Kaffee. Und versuchte, meine Nerven zu beruhigen.
Michael saß im hinteren Bereich und studierte eine ausländische Zeitung, ich nahm an, eine spanische. Nachdem ich an der Theke meine Bestellung aufgegeben hatte, verstaute ich meinen Rucksack unter dem Tisch und gesellte mich zu ihm. Anscheinend hatte er sich noch nicht rasiert und trug genau wie ich ein schwarzes T-Shirt zu einer verwaschenen Jeans. Beides brachte seine sportliche Figur bestens zur Geltung. Seine Muskeln schienen Muskeln zu haben.
»Liest du das wirklich, oder willst du nur angeben?«, fragte ich herausfordernd.
Er schaute von der Zeitung auf und bombardierte mich mit einer wahren Sturzflut fremder Worte.
»Tut mir leid, war nur ’ne Frage. Moment mal, waren das vielleicht jede Menge Schimpfwörter?«
Michael lachte, wobei seine weißen, ebenmäßigen Zähne aufblitzten. Sein Lachen klang angenehm, natürlich, als ob er es häufig tun würde. Ich wünschte, ich hätte so lachen können. Sein Lächeln brachte mich genauso durcheinander wie am letzten Abend.
»Welche Sprache war das?«
»Italienisch.«
»Wo hast du das gelernt?«
»Von meiner Großmutter.« Michael legte die Zeitung beiseite, beugte sich über den Tisch und schaute mir eindringlich in die Augen. »Was willst du?«
»Ich hab schon einen Espresso bestellt«, antwortete ich und lehnte mich instinktiv zurück.
»Nein, ich meine, was willst du vom Leben?«
»Ist es nicht ein bisschen früh am Tag für philosophische Diskussionen?« Ich strich mir eine lose Haarsträhne aus der Stirn und rutschte unbehaglich auf dem Stuhl herum.
»Warum verunsichert dich die Frage?«
»Normalerweise laufe ich nicht durch die Gegend und spreche mit Fremden über meine persönlichen Pläne und Wünsche.« Die Kellnerin brachte mein Getränk und die Empanada an den Tisch. Als sie sich entfernte, fuhr ich fort. »Du bist natürlich kein völlig fremder Mensch für mich, aber schließlich kenne ich dich erst seit gestern.«
»So fremdartig bin ich gar nicht.« Ein weiteres verwirrendes Aufblitzen weißer Zähne. »Dann lass uns nicht von deinem ganzen Leben sprechen, sondern von einer kürzeren Zeitspanne. Was erwartest du vom heutigen Tag?«
Ich hob die Tasse an die Lippen und blies auf den dampfenden Inhalt. Vielleicht konnte ich ihm weismachen, dass ich vom heißen Espresso so rote Wangen hatte und nicht aus … Verlegenheit.
Michael vermittelte so überzeugend den Eindruck, als hätte er alle Zeit der Welt, um mir zuzuhören, dass ich ganz durcheinander war. Die Schmetterlinge in meinem Bauch regten sich. Ich war nicht
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