Die Stunde der Zeitreisenden: Hourglass 1
bereit, ihm gegenüber vollkommen ehrlich zu sein. Vielleicht würde ich es niemals sein. Ich war keine gute Lügnerin. Aber vom Thema ablenken, das konnte ich. Darin war ich Spezialistin.
»Warum erzählst du nicht ein bisschen was von dir? Ich glaube, ich würde mich bei der Sache hier viel wohler fühlen, wenn ich etwas mehr über dich wüsste.« Dagegen konnte er nichts sagen. Und ich wollte wirklich mehr über ihn wissen. Viel mehr.
Michael legte die Hände auf den Tisch. Seine Finger waren lang, die Nägel gerade abgeschnitten und an der rechten Hand ein wenig länger, und ich fragte mich, ob er Gitarre spielte. Am linken Daumen trug er einen Silberring.
»Ich habe eine Schwester; ihr Name ist Anna Sophia. Meine Mutter arbeitet in der Immobilienbranche. Hochpreisige historische Objekte. Sie ist sehr erfolgreich – so ähnlich wie Thomas. Sie ist mein großes Vorbild. Mein Dad ist von der Bildfläche verschwunden, als ich acht war.« Er lächelte andeutungsweise, und ich fragte mich, wie seine Geschichte weitergehen würde. »Ich bin in einem Vorort von Atlanta aufgewachsen und arbeite seit fast einem Jahr für Hourglass.«
Da meine Internetrecherche nichts ergeben hatte, wusste ich nichts über Hourglass, aber ich hatte ein Bild von Marlon Brando im Hinterkopf, im Hinterzimmer eines italienischen Restaurants, in einer Zigarrenrauchwolke, zwei schwer bewaffnete Jungs namens Paolo und Vito an seiner Seite. Ich brauchte ein klareres Bild. Oder zumindest eines, das weniger beängstigend war.
»Was genau macht ihr so bei Hourglass?«, fragte ich.
»Beratung, Mentoring, Coaching und so weiter.«
»Wie hast du das Unternehmen gefunden? Oder war es umgekehrt?«
»Sie haben mich gefunden. Ich wurde einem Mentor zugeordnet, der mir geholfen hat, meine Fähigkeiten zu erkennen. Als ich letztes Jahr hier aufs College gekommen bin, habe ich angefangen, kleinere Beratungen zu übernehmen. Gespräche mit Kindern, die einen Vertrauten brauchten, Zusammentragen von Informationen, Sachen in der Art. Dann wurde alles anders. Als mein Mentor starb« – er hielt inne und holte tief Luft – »habe ich um mehr Verantwortung gebeten. Ich wollte etwas von dem zurückgeben, was ich bekommen hatte.«
Michaels Augen und Mund drückten Schmerz aus und noch etwas anderes, vielleicht Wut. Ich konnte nur ahnen, welcher Wust von Gefühlen unter der Oberfläche kochte.
»Das mit deinem Freund tut mir leid.«
»Gewinnen und verlieren, darum geht es im Leben«, erwiderte er, während die Traurigkeit die Oberhand über den Zorn in seinem Blick gewann. »Wer wüsste das besser als du?«
Nur dass in meinem Leben die Verluste viel schwerer wogen als die Gewinne. »Was für ein Auftrag bin ich? Beratung oder Mentoring?«
»Ein Teil meiner Arbeit ist, dass ich mit Leuten rede, die Schwierigkeiten damit haben, sich selbst anzunehmen. Ich höre zu.« Er zuckte die Achseln.
»So wie du mir zuhörst.«
»Du bist anders.«
»Bin ich das?«
»Japp.« Er grinste und die Schmetterlinge in meinem Bauch schlugen Purzelbäume. »Ich würde dir auch so zuhören.«
Wieder steckte ich die Nase in die winzige Espressotasse. Nach einem weiteren Schluck fragte ich: »Dann gehst du also schon aufs College?«
»Ich fang bald mein zweites Jahr an. Was ist mit dir?«
»Thomas will mich für die Abschlussklasse an der Ivy Springs Highschool anmelden. Eigentlich brauche ich nur noch ein Semester, weil ich in den letzten zwei Jahren zur Sommerschule gegangen bin. Am liebsten würde ich nur den G.E.D.-Kurs für die Hochschulreife machen. Aber Thomas lässt mich nicht.« Ich lachte freudlos. Ich konnte mir nichts Schrecklicheres vorstellen, als an den Ort meines öffentlichen Mentalzusammenbruchs zurückzukehren. »Ich wünschte, er überlegte es sich noch anders. Ich brauche eine Pause.«
»Also wenn jemand eine Pause verdient hat, dann du«, sagte Michael mit verständnisvoller Stimme. »Vielleicht kannst du eine andere Alternative zur Highschool finden, mit der Thomas einverstanden ist.«
»Vielleicht«, sagte ich zweifelnd. »Jedenfalls werd ich versuchen, so schnell wie möglich wieder alles auf die Reihe zu kriegen, damit du bald wieder zu deinen Bierpartys, Footballspielen und Cheerleaderinnen zurückkannst.«
»Ich trinke nicht, ich mag lieber Baseball, und Cheerleaderinnen sind auch nicht mein Fall.«
Was sie garantiert zutiefst bedauerten.
»Und Emerson«, fuhr Michael fort und sah mir tief in die Augen. »Nur um es mal ganz klar zu
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