Die Stunde der Zeitreisenden: Hourglass 1
hinter der Speisekarte verstecken konnte.
»Wollen wir darüber sprechen, was gerade passiert ist?«
»Wärst du damit einverstanden, wenn wir’s fürs Erste auf sich beruhen lassen? Glaub mir, es ist besser so.«
»Gibt es eine andere Möglichkeit?«
»Ich fürchte nicht.« Ein leichtes Lächeln spielte um seine Lippen, doch seine Augen blieben ernst. »Vielleicht solltest du mir erst einmal deine anderen Fragen stellen.«
»Wie wär’s mit: ›Was zum Teufel war das gerade?‹«
Sein Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel daran, dass dieses Thema tabu war.
»Na schön.« Vergeblich versuchte ich, einen der Gedanken, die mir durch den Kopf jagten, zu fassen zu bekommen, damit ich irgendetwas zu sagen hätte. Schließlich zog ich meine Liste aus der Tasche und breitete sie vor mir aus. »Woran erkennt man den Unterschied zwischen realen Menschen und Zeitlosen?«
»Du meinst abgesehen davon, sie in den Bauch zu boxen?«
Ich wurde rot, jedoch nicht, weil ich ihn geboxt hatte, sondern weil ich an sein Sixpack dachte. »Ja.«
»Sie verschwinden, wenn sie auf feste Gegenstände stoßen.« Er machte ein nachdenkliches Gesicht. »Außerdem … nun ja, ich seh die Zeitlosen ja schon so lange und hab eine Art siebten Sinn dafür entwickelt, sie zu erkennen.«
Das wäre hilfreich.
»Wie sorgst du dafür, dass sie verschwinden?«, las ich von meiner Liste ab. »Ich meine, nicht für immer, aber wenn du sie siehst – wenn sie dir im Weg sind?«
»Ich versuche, sie zu ignorieren. Da ich jetzt weiß, wie ich sie erkenne, kann ich ihnen leichter ausweichen, aber wenn ich aus irgendeinem Grund will, dass sie verschwinden, berühre ich sie. Obwohl da eigentlich nichts ist, das man anfassen könnte. Wie machst du’s?«
Ich nickte, unfähig, den Blick von seinen Fingern loszureißen. Unfähig, meinen Wunsch zu unterdrücken, ein weiteres Mal von ihm berührt zu werden.
Das Essen wurde serviert und rettete mich vor meinen Gedanken. Ich stopfte die Liste zurück in die Handtasche. Sobald ich den Essensduft in die Nase bekam, erwachte mein Appetit; es war mit Honig glasierter Lachs und gegrillter Spargel. Michael aß ein paar Bissen und schob den Teller beiseite. Er stützte die Ellbogen auf den Tisch und faltete die Hände. »Der Umgang mit den Zeitlosen wird mit der Zeit einfacher. Ist es nicht jetzt schon so? Seit du zum ersten Mal welche gesehen hast, meine ich?«
Einfacher? »Ja, vielleicht.«
»Wie hat es bei dir angefangen?« Ich spielte ein bisschen auf Zeit, indem ich eine sperrige Spargelstange mit der Gabel attackierte. »Wie viel weißt du über mich?«
»Thomas hat mir einen Teil deiner Geschichte erzählt – kurz vor dem Tod deiner Eltern hast du angefangen, Dinge zu sehen. Seine restaurierten Gebäude scheinen ein Auslöser zu sein.«
»Sonst noch was?«
Michael trank einen großen Schluck Eistee und schien seine Worte sehr sorgfältig abzuwägen, bevor er sprach. »Er hat erwähnt, dass du eine ziemlich schwere Zeit hinter dir hast.«
Ich starrte auf meinen Teller und mochte ihm vor lauter Verlegenheit nicht in die Augen sehen. »Hat er dir erzählt, dass ich eine Weile in einer Klinik war?«
»Ja. Aber er sagte nicht, aus welchem Grund. Ich habe ihn gebeten, es dir zu überlassen.« Seine Stimme klang ruhig und tröstlich.
»Wegen Depressionen. Hauptsächlich.« Mit gesenktem Blick fing ich an, mein Brötchen zu zerkrümeln. »Ich hatte angefangen, Zeitlose zu sehen. Kurz danach sind meine Mom und mein Dad … gestorben. Das hat mich ziemlich aus der Bahn geworfen. Nicht gerade schön. Ich wurde in die Psychiatrie eingewiesen und bekam Medikamente. Jede Menge. Alles verschwand. Nicht nur die Sachen, die ich sah – die Zeitlosen –, sondern auch meine Persönlichkeit, meine Bedürfnisse und Wünsche, alles. Ich war wie eine leere Hülse.«
Weniger als eine Hülse.
»Für eine Weile war es gut, leer zu sein. Ich spürte keinen Schmerz mehr. Aber nach einiger Zeit war es so, als hörte ich mich selbst von weit her rufen und darum bitten zurückzukehren.« Ich zupfte erneut an meinem Brötchen. »Nach der Entlassung aus der Klinik kam ich aufs Internat und fand eine Therapeutin, Alicia. Es half, mit jemandem zu reden, ihr alles sagen zu können.«
Fast alles.
»Weihnachten habe ich mit den Tabletten aufgehört.« Ich konnte nicht fassen, dass ich ihm so viel anvertraute, aber die Worte sprudelten nur so aus meinem Mund. Seine Augen, die direkt in mein Inneres zu blicken schienen, ohne
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