Die Stunde der Zeitreisenden: Hourglass 1
mich zu beurteilen, brachten mich zum Reden. »Thomas und Dru ahnen nichts davon. Ich will nicht, dass sie sich Sorgen um mich machen, und das werden sie, wenn sie erfahren, dass ich sie nicht mehr nehme.«
»Sind dir zuhause die Semmelbrösel ausgegangen, oder warum kannst du das das arme Brötchen nicht endlich in Ruhe lassen?« In Michaels scherzhaften Worten schwang Besorgnis mit. Mein Herz geriet ein wenig ins Stolpern, doch der zärtliche Klang seiner Stimme bewahrte mich vor dem Zusammenbruch.
Ich legte das Brötchen beiseite und verschränkte die Arme vor der Brust. »Sobald die Wirkung der Medikamente nachließ, fing ich wieder an, Sachen zu sehen. Im letzten Semester ist es nur ein paar Mal passiert. Zu Beginn des Sommers habe ich bei meiner Freundin Lily einen Zeitlosen gesehen. Gestern sah ich dann eine Südstaatenschönheit mit Reifrock und einen Typen in unserem Wohnzimmer, und gestern Abend war da dieses …«
»Jazztrio, ja.« Er drehte den Silberring an seinem Daumen. »Bist du froh, dass du keine Medikamente mehr nimmst?«
»Ich fand’s schrecklich. Ich hatte nie das Gefühl, die Dinge im Griff zu haben, aber die Fähigkeit zur Selbstkontrolle ist bei verrückten Leuten ja ohnehin nicht besonders stark ausgeprägt.«
»Stopp!« Michaels Stimme war nicht laut, aber das Wort war ein Befehl. »Du bist nicht verrückt. Was du siehst, ist wirklich vorhanden, Emerson. Es ist real; mit dir ist alles in Ordnung. Du hast Schreckliches durchgemacht – deine Eltern zu verlieren.«
Meinen Verstand zu verlieren.
»Ich will doch nur sagen … Sei bitte nicht so streng mit dir.« Er streckte die Hand aus, als wollte er mich berühren, zog sie jedoch wieder zurück. »Sei ein bisschen nachsichtiger mit dir selbst.«
Bei seinen Worten wurde ich von einer Woge der Erleichterung erfasst. Es war nicht nur, was er sagte, sondern wie er es sagte, so als würde er mir keine andere Wahl lassen. Ein Teil meiner Anspannung löste sich und wurde hinweggespült. Ein Gefühl von Befreiung überkam mich und trieb mir die Tränen in die Augen.
»Verdammt. Ich bin keine Heulsuse. Ich weine nie. Ich hasse Weinen.« Ich wischte mir die Augen mit der Serviette trocken. Er bat die Bedienung um die Rechnung und gab mir Zeit, mich wieder zu fassen.
»Geht aufs Haus«, verkündete sie fröhlich. Sie musterte mich kurz, bevor sie Michael unverbindlich anlächelte.
»Danke.« Er erwiderte ihr Lächeln. Als sie davoneilte, hinterließ er einen Zwanziger auf dem Tisch.
Ein großzügiges Trinkgeld. Immer ein sicheres Zeichen für einen guten Charakter.
Nach ein paar Sekunden schaute ich wieder zu ihm auf. »Danke.« Er nickte. Ich wusste, er hatte verstanden, dass ich ihm nicht für das Essen dankte.
»Wollen wir gehen? Zu dir nach Hause?«
8. KAPITEL
E s dauerte einen Augenblick, bis ich den Mund wieder zukriegte.
Er gab sich keine Mühe, sein Grinsen zu verbergen. »Damit du mir die Lofts zeigen kannst?«
»Ach ja, richtig, die Wohnungen. Dann lass uns gehen.« Ich stand auf und war mir bewusst, dass meine Wangen feuerrot angelaufen waren.
Auf dem Weg durchs Restaurant in Richtung Bar streifte seine Hand versehentlich meinen Nacken. Dort, wo er mich berührte, spürte ich eine derart konzentrierte Hitze, dass ich am übrigen Körper anfing zu frieren. Als ich ihm einen verstohlenen Seitenblick zuwarf, schob er die Hand in die Hosentasche.
Hinter der Bar zählte Dru die Rotweinflaschen ab, die der Barkeeper in ein Teakholzregal legte. »Dru? Michael möchte sich gern die Lofts ansehen. Könnte ich den Generalschlüssel bekommen?«
»Ja, klar.« Sie zog eine Hand voll Schlüssel aus der Tasche, löste einen davon vom Ring und reichte ihn mir. Sie musterte uns kurz, und in ihrer Miene spiegelte sich Überraschung oder vielleicht auch Besorgnis wider.
Es konnte ihr unmöglich entgangen sein, dass ihr kunstvoll aufgetragenes Make-up ein wenig verschmiert war.
Schweigend überquerten wir den Marktplatz. Meine Gefühle befanden sich lächerlich dicht unter der Oberfläche, als wäre mein Innerstes nach außen gekehrt, aber das Gefühl von Verwundbarkeit jagte mir keine Angst ein. Während ich ihm die beiden freien Wohnungen zeigte, waren die Energieströme zwischen uns deutlich spürbar und ließen alle meine Sinne auf Hochtouren laufen. Trotz der spannungsgeladenen Atmosphäre machte ich eine unbekannte Erfahrung. Seit langer Zeit spürte ich ein Gefühl von … Sicherheit.
Wir traten in den Flur, und ich
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