Die Stunde der Zikaden
interessiert. Ich bin froh, dass er weg ist, und ich habe den Strand nur deshalb abgesucht, weil ich sicher sein wollte, dass er auch wirklich weg ist!»
«Aha.»
«Ja, aha! Ich habe das gesagt, weil ich nicht will, dass du falsche Schlüsse ziehst!»
«Schon gut.»
«Grazie! Können wir jetzt noch einen Kaffee trinken?»
«Du willst also nicht melden, dass …»
«No!»
«Wäre es nicht sinnvoll, wenn wir wenigstens ein paar hundert Meter nach Norden gehen würden? Dahin zieht nämlich die Strömung. Vielleicht ist er woanders angeschwemmt worden.»
«Dann wird ihn schon irgendwer finden! Ich werde ihn nicht finden!»
«Und was ist, wenn ich anderer Meinung bin?»
«Das kannst du, Laura! Aber dann werde ich meine Koffer packen und zurück nach Siena fahren!» Er drehte sich um und verschwand zwischen den Büschen.
Laura trat gegen einen angeschwemmten Milchkarton. Das, dachte sie, ist unser erster richtiger Krach. Zweiter Ferientag, erster Krach. Interessant. Aber sie konnte es nicht so gelassen nehmen, wie sie es gern getan hätte. Sie fürchtete plötzlich, dass alles ein großer Irrtum war. Wie lange kannten sie sich? Etwas länger als zwei Jahre. In dieser Zeit hatten sie sich höchstens ein paar Wochen lang gesehen, immer hier und dort ein paar Tage. Meistens mussten sie in dieser knappen Zeit auch noch ermitteln. Dazwischen lagen Monate, in denen sie auf Telefongespräche angewiesen waren. Sie lebte mit ihren Kindern in München, er allein in Siena. Welch unendlicher Raum für Projektionen.
Sie trat ein zweites Mal gegen den Karton und kickte ihn in weitem Bogen ins Wasser. Dann krempelte sie entschlossen ihre Jeans hoch und folgte dem schmalen Strand nach Norden.
ES WAR BEINAHE MITTAG, als Ernesto Orecchio sich von seinen Kollegen verabschiedete. Verabschieden konnte, besser gesagt. Seit Stunden fieberte er diesem Augenblick entgegen, fürchtete, dass einer fragte, wo denn sein Fiat sei? Wie ein Wilder hatte er Äste gestapelt, gesägt, die Straße gefegt und sich gefragt, wozu es eigentlich eine Feuerwehr gab, wenn die nicht kam, wenn man sie brauchte. Nichts hatten die getan! Nur den Verletzten aus dem Wagen gezogen und ihn mitgenommen. Das war’s.
Orecchio hatte seine Mutter angerufen und sie beruhigt. Mehrfach musste er ihr versichern, dass er nicht im Sturm umgekommen sei. Von den anderen hatte er nichts gehört. Zwanzigmal hatte er sein Handy überprüft. Es funktionierte. Aber kein Anruf kam durch, keine SMS, nichts. Jetzt stand er da mit seinem Auto voller Pakete. Wie sollte er mit denen an seinen Kollegen vorbeikommen? Ein Blinder konnte sehen, dass der Fiat bis unters Dach beladen war. Was klang überzeugend? Vielleicht, dass er seine kleine Wohnung am Rand von Portotrusco renovierte und vor Dienstbeginn noch schnell beim Baumarkt in Grosseto war? Oder dass er die Sachen bei einem Freund vorbeibringen musste? Was für Sachen? Ihm fiel einfach nichts ein. Er begann zu schwitzen, er konnte ja noch nicht mal erklären, warum er seinen Fiat nicht neben dem Wärterhäuschen geparkt hatte. Noch hatte ihn keiner gefragt. Alle waren damit beschäftigt, die riesige Pinie zu zersägen. Den weißen Lieferwagen mit dem eingedrückten Dach und der zertrümmerten Frontscheibe hatten sie an die Seite geschoben. In der Fahrerkabine war alles voll Blut, und Fabrizio vermutete, dass bald die Polizei kommen würde, um den Unfall zu untersuchen.
«Hast du eine Ahnung, wer das war?», hatten seine Kollegen gefragt. Orecchio hatte mit den Schultern gezuckt und «keine Ahnung» gemurmelt.
Noch so eine Sache. Orecchio war traurig, dass die Pinie umgefallen war. Erst am Morgen war diese Trauer langsam in ihm aufgestiegen. So ähnlich wie Gänsehaut. Die kam auch meistens, bevor man etwas merkte. Er hatte geglaubt, dass dieser mächtige Baum mindestens noch hundert Jahre stehen, dass er sie alle überleben würde. Irgendwie hatte ihn das zufrieden gemacht, ihm ein Gefühl von Ewigkeit gegeben. Das war jetzt kaputt. Genau wie das Dorf seiner Kindheit und sein Glaube an die Kommunisten. Es war nicht mehr viel übrig. Alles in Trümmern. Beinahe vierzig war er und hatte noch nicht mal eine Frau. Und jetzt der Baum.
Ein paar Minuten lang hing er noch im Wärterhäuschen herum und trank seinen Kaffee, der ekelhaft schmeckte. Redete mit Fabrizio und den andern über den Sturm. Immerhin fanden es alle schade, dass die Pinie umgefallen war.
«Era bello», sagte Fabrizio, schaute bekümmert auf seine Stiefel
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