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Die Stunde der Zikaden

Die Stunde der Zikaden

Titel: Die Stunde der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felicitas Mayall
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hundert oder hundertfünfzig Meter von Laura entfernt. Er schien etwas über der Schulter zu tragen.
    Woher kam der so plötzlich? Wieso hatte sie ihn nicht früher gesehen? Er musste von den Häusern zum Strand heruntergekommen sein, als sie nicht hingesehen hatte.
    Sie drehte sich um und schätzte die Entfernung zur Mole. Mindestens ein halber Kilometer. Der Mann mit dem langen Mantel ging schneller, oder kam ihr das nur so vor?
    Es gab zwei Möglichkeiten: ihm entgegengehen oder zurücklaufen. Sie fühlte sich unbehaglich. Dabei gab es keinen Grund. Was hatte diese Gestalt mit ihr zu tun? Trotzdem kehrte sie um und tat so, als würde sie joggen. Gemächlich, damit es nicht nach Flucht aussah. Als sie ungefähr die halbe Strecke zur Mole zurückgelegt hatte, kam ihr auch von dort ein Wanderer entgegen. Er sprang von der Mauer, wie sie selbst es zuvor getan hatte. Wieder blieb Laura stehen. Sie machte ein paar Dehnungsübungen und schaute dabei unauffällig zurück. Der mit dem langen Mantel musste auch gelaufen sein, denn er war jetzt nur noch geschätzte fünfzig Meter entfernt. Auch er war stehen geblieben.
    Lächerlich, dachte Laura. Trotzdem spürte sie, dass ihr Herzklopfen nicht allein vom Laufen kam. Sie versuchte ihren Atem zu kontrollieren und ging langsam weiter.
    Es liegt an meinem Beruf, dachte sie. Das hier ist eine ganz normale Situation an einem Strand nach einem Sturm. Menschen gehen nach einem Sturm am Meer entlang, betrachten das Strandgut, suchen ungewöhnliche Muscheln. Sie wich einem Brett mit rostigen Nägeln aus, machte einen Bogen um die tote Katze, streifte den aufgedunsenen Bauch aus den Augenwinkeln.
    Der Strandwanderer, der ihr entgegenkam, war nur noch wenige Meter entfernt. Laura hob einen dicken Schwamm auf und drückte ihn aus. Erst dann sah sie ihm entgegen.
    Er lächelte. Vielmehr sein Mund lächelte. Seine Augen waren hinter einer großen Sonnenbrille verborgen. Das dunkelblonde Haar hatte er glatt nach hinten gekämmt. Er trug ein elegantes beigefarbenes Polohemd über vermutlich teuren braunen Hosen, die er wie Laura hochgekrempelt hatte. Aber im Gegensatz zu ihr war er nicht barfuß. Seine Füße steckten in braunen Sneakers. Seine Gesichtshaut war leicht gebräunt, gut rasiert. Von seinen Nasenflügeln liefen scharfe Falten bis zum kräftigen Kinn. Die Lippen waren erstaunlich voll. Er mochte vierzig sein oder ein bisschen drüber.
    All das nahm Laura in Bruchteilen von Sekunden wahr. Villenbesitzer, dachte sie, Unternehmer, schätzungsweise Norditaliener. Dunkle Sonnenbrillen machen alle italienischen Männer zu Mitgliedern der Mafia. Dieses Klischee funktionierte wie auf Knopfdruck.
    Er lächelte noch immer und blieb neben ihr stehen.
    «Ein schöner Schwamm», sagte er leise.
    Laura nickte, wartete.
    «Wohnen Sie hier im Resort?» Sein Italienisch klang ein wenig nasal, nach Mailand oder Turin. Er rollte das «r» nicht, konnte genauso gut Schweizer sein.
    «Nur vorübergehend.»
    «Natürlich, es ist Oktober. Außerdem sind wir alle nur vorübergehend hier.»
    Laura warf ihm einen kurzen prüfenden Blick zu. Wie hatte er das gemeint? Nur in Bezug auf die Bewohner des Resorts oder auf die Menschheit im Allgemeinen?
    «Im Oktober ist es hier besonders schön, nicht wahr? Sind Sie allein in Il Bosco ?» Er wandte ihr sein Profil zu und schaute auf das Meer hinaus.
    «Warum interessiert Sie das?»
    «Nun, es ist nur … ich kenne dieses Resort ziemlich gut. Falls Sie allein sind, dann schließen Sie am Abend das Haus gut ab. Aber das haben Ihnen sicher auch die Wärter an der Pforte schon gesagt. Um diese Zeit ist es sehr einsam hier, da suchen manche ihren Vorteil, Signora.»
    «Möglich.» Laura ging weiter. Doch er hörte nicht auf zu reden, bis sie sich wieder nach ihm umdrehte.
    «Achten Sie auf den Wiedehopf. Er ist fast ausgestorben, aber vor dem Sturm habe ich einen gesehen. Hier im Resort! Und hüten Sie sich vor der Strömung in der Bucht! Es sind schon ein paar Leute ertrunken, weil sie nichts von der Strömung wussten. Das können Sie auch an den merkwürdigen Dingen sehen, die hier angeschwemmt werden. Aber trotzdem: gute Erholung!» Er fasste zum Gruß mit zwei Fingern an den Bügel seiner Sonnenbrille.
    Sie nickte ihm zu und überlegte, ob er sie am Morgen beobachtet hatte, ob seine freundlichen harmlosen Worte mehr bedeuteten als eine Warnung vor den Meeresströmungen. Vielleicht hatte er den Toten gesehen. Sie fühlte sich unfrei, beinahe wütend. So hatte

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