Die Stunde der Zikaden
sich wacher, erinnerte sich plötzlich an die verfallenen, kleinen Steinhäuser in den Wäldern. Es war schon ein paar Jahre her, dass er mit einem Bekannten in dieser Gegend Jagd auf Wildschweine und Stachelschweine gemacht hatte. Der Bekannte war inzwischen gestorben, und Orecchio hatte die Jagd – beinah erleichtert – sofort aufgegeben.
Er war sowieso nur mitgegangen, weil Männer eben auf die Jagd gingen und sein Bekannter es als selbstverständlich voraussetzte. Aber das Kindergeschrei der von Schrotkugeln getroffenen Stachelschweine hatte Orecchio stets bis in seine Träume verfolgt. Niemals hätte er auch nur einen Bissen Stachelschweinfleisch essen können. Immer waren ihm Ausreden eingefallen, wenn er zu so einem Braten eingeladen wurde. War schon gut, dass der Bekannte nicht mehr da war. Viele Probleme lösten sich so auf ganz natürliche Weise. Er vermisste ihn nicht, diesen Pietro Sentieri, der sich ihm immer aufgedrängt hatte, weiß der Himmel, warum. Ernesto Orecchio zog es jedenfalls vor, sein ganz eigenes Leben zu leben.
Langsam ging er zum Waldrand und schaute über das Tal. Bäume und Büsche sahen weich aus, rund und konturlos. Ein paar weiße Rinder liefen hintereinander auf einem unsichtbaren Pfad. In der Ferne, weit hinter den dunklen Pinienwäldern, schimmerte ein schmaler Streifen Meer. Der Sturm hatte aufgehört, als hätte es ihn nie gegeben. Noch einmal zog Orecchio an seiner MS und drückte sie dann in die feuchte Erde. Er würde die Pakete in eines der verfallenen Häuser bringen. Das war die einzige Lösung, die ihm einfiel, und er fand sie nicht schlecht.
Niemand war ihm gefolgt, da war er sicher. Er räumte den großen Ast zur Seite und stieg wieder in seinen Wagen. Er erinnerte sich dunkel an dieses Tal, vermutlich verengte es sich zwischen zwei Hügeln, irgendwo musste ein Weg nach oben in die Wälder führen. Diesen Weg musste er finden.
Laura erreichte die Mündung eines kleinen Flusses, die von riesigen Felsbrocken und Betonquadern eingefasst war, die eine Mauer bildeten. Eine improvisierte Mole. Sie kletterte auf die Steine, balancierte ein Stück und sprang in den Fluss hinunter. Das Wasser reichte bis über ihre Knie. Es schäumte, denn der Sturm hatte das Meer bis weit ins Land hineingepresst, und jetzt strömte es sprudelnd wieder zurück. Laura durchquerte das Flüsschen und kletterte auf der andern Seite wieder auf die Mauer. Von hier aus konnte sie die Bucht nach Norden überblicken.
Wohin war der Tote verschwunden? Falls eine Welle ihn hinausgezogen hatte, musste das Meer ihn auch wieder an den Strand werfen. So wie die Surfbretter und Baumstämme, die tote Katze, den Plastikmüll, die Flaschen und Taucherbrillen und den dunkelgrünen Seetang, dessen Schwimmblasen unter ihren Füßen platzten. Feiner Dunst lag über dem Strand, Brandungsnebel. Weit weg, am Ende der Bucht, ragten hohe Felsen ins Meer, Felsen und das Gerippe einer Burg.
Kein Mensch war am Strand zu sehen. Außer der tosenden Brandung war nichts zu hören. Obwohl Laura einen Pullover anhatte, fröstelte sie plötzlich. Der Strand hatte etwas Endzeitliches, Unwirkliches. Sie zögerte, lief dann aber weiter. Rechts von ihr lagen die verlassenen Villen mit ihren verschlossenen Fensterläden und heruntergelassenen Rollos zwischen Pinien, die sich in absurden Winkeln landwärts lehnten. Links tobte das Meer. Es kam Laura vor, als hätten die Menschen diese Gegend verlassen, weil sie einen Angriff erwarteten, der vom Meer her drohte.
Sie versuchte diese Gedanken wegzuschieben. Es war der Sturm. Nur der Sturm. Spätestens am Nachmittag würde die Sonne wieder scheinen und diesen Strand verwandeln. Das war ihr erster längerer Urlaub seit Jahren. Urlaub in der südlichen Toskana. Aber es sah fremd aus hier, fühlte sich klamm an und kalt, wie die seltsame Umarmung mit dem Toten im Wasser. Vielleicht war es besser, umzukehren und die Sache zu vergessen. Vielleicht hatte Angelo recht.
Sie schaute zurück und war erstaunt, wie weit sie sich bereits von der kleinen Mole entfernt hatte. Noch hundert Schritte weiter. Laura zählte, rannte. Bei zweiundachtzig blieb sie keuchend stehen. Es war anstrengend, im weichen Sand zu laufen. Sie bückte sich nach einer großen, weißen Sepia und kratzte mit dem Fingernagel über den weichen Kalk. Dann suchte sie mit den Augen noch einmal den Strand ab. Aus dem salzigen Brandungsnebel löste sich im Norden die Gestalt eines Mannes in einem langen Mantel, höchstens
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