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Die Stunde der Zikaden

Die Stunde der Zikaden

Titel: Die Stunde der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felicitas Mayall
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jetzt vor ihm. Er senkte seine Stimme ein bisschen, sprach aber heftig weiter: «Du verstehst das nicht, oder? Ich höre schon wieder das Ticken in deinem Kopf! Das berühmte deutsche Pflichtgefühl! Weißt du, was passieren wird, wenn wir uns dieser Leiche annehmen? Der Strand wird gesperrt, es wird von Polizisten wimmeln. Dann kommt das Fernsehen: Alle Privatsender, die RAI. Sie werden uns auflauern, uns interviewen. Die Carabinieri werden uns vernehmen, und dann werden die Neugierigen aus dem Dorf kommen. Der Maresciallo von Portotrusco wird uns zum Essen einladen, und dann ist unser gemeinsamer Urlaub vorbei! Deshalb habe ich ihn nie gesehen! Basta!» Er presste beide Hände gegen seine Schläfen und fluchte laut.
    «Wow!»
    «Was, wow?» Angriffslustig starrte er sie an.
    «Ich habe dich noch nie so wütend gesehen. Das war der perfekte italienische Wutanfall.»
    «Und er ist noch nicht vorbei! Du hast mir noch nicht erklärt, warum du in dieses Höllenwasser gegangen bist! Wolltest du ihn retten? Wolltest du Selbstmord begehen? Weißt du eigentlich, dass es an dieser Küste gefährliche Strömungen gibt?» Er bückte sich nach einem Ast und schleuderte ihn in Richtung Meer.
    «Es tut mir leid.»
    «Tatsächlich?»
    «Ja, es tut mir leid, und es war dumm von mir. Ich bin aus dem Haus gegangen, und das Meer war so … Ich schwimme gern in hohen Wellen …»
    «Santa Caterina! Ich bin beinahe umgekommen vor Schreck, als ich dich im Haus nicht finden konnte. Ich wusste sofort, dass du schwimmen gegangen bist. Und dann stößt du auch noch mit einer Leiche zusammen! Du bist unglaublich, Laura!»
    Sie sah das Zucken um seine Mundwinkel und prustete eine Zehntelsekunde vor ihm los.
     
    Sie wussten beide, dass ihre Reaktion überdreht war. Aber sie konnten nicht aufhören zu lachen. Wie Pubertierende, die einen Kicheranfall haben. Geradezu hysterisch. Aber es war irgendwie angemessen: Zwei Kommissare im Urlaub, konfrontiert mit einer Leiche an ihrem Privatstrand. Trotzdem war ein Rest von Grauen noch da. Laura versuchte es zu ignorieren, wegzulachen.
    «Und jetzt?», fragte sie, nachdem sie sich wieder beruhigt hatten. Sie hatte Seitenstechen und fühlte sich erschöpft.
    Angelo Guerrini antwortete nicht. Nebeneinander stehend schauten sie auf den Toten, der nur wenige Meter vor ihnen am Rand der Brandung lag, halb begraben im Sand und immer wieder von Wellen überspült.
    «Vielleicht verschwindet er, wenn wir ihn nur lange genug anstarren», murmelte Guerrini schließlich. «Er ist schon kleiner geworden, siehst du? Er versinkt allmählich im Sand.»
    «Er ist Araber, und er ist umgebracht worden, Angelo.»
    Guerrini nickte grimmig.
    «Das ändert nichts daran, dass ich mit Begeisterung zusehe, wie er verschwindet!»
    Laura suchte mit ihren Augen die Küste ab. Außer Treibholz und Strandgut war nichts zu sehen. Kein Wanderer, kein Surfer. Nur die sandbraunen Wellen stürmten noch immer gegen das Ufer und färbten sich in der höher steigenden Sonne allmählich golden. Sie konnte Angelos Wut verstehen, wünschte selbst, dass dieser bleiche Unbekannte nie aufgetaucht wäre. Trotzdem machte er sie neugierig. Hatte er gestohlen, war ihm deshalb zur Strafe brutal die Hand abgehackt worden? Was hatte er gestohlen? Ein Päckchen Kokain vielleicht? Oder Geld von Drogenhändlern, die übers Meer kamen?
    «Wir werden an ihn denken, auch wenn das Meer ihn wieder mitnimmt.»
    «Ich werde nicht an ihn denken, Laura! Ich habe ihn nicht einmal aus der Nähe gesehen. Er existiert quasi nicht … du wirst dich erkälten, wenn du noch länger in deinem nassen Hemd hier rumstehst!»
    Erst in diesem Augenblick spürte Laura den kühlen Wind und das nasse Hemd auf ihrer Haut, das vom Salzwasser vermutlich ruiniert worden war.
    «Schaffst du es wirklich, ihn einfach im Sand liegen zu lassen? Weil er Araber ist? Was wäre, wenn es ein blonder Deutscher wäre oder ein Italiener? Jemand, der ein Sohn deiner Verwandten oder Freunde sein könnte?»
    «Ich weiß doch gar nicht, was er ist! Ich habe ihn nicht angesehen! Ich werde dir jetzt ein heißes Bad einlaufen lassen! Danach werden wir frühstücken und wenn er dann noch da ist … verflucht! Es interessiert mich wirklich nicht!»
    «Er wird noch da sein.»
    Guerrini streckte beide Arme gen Himmel, als flehte er die Götter um Gnade an, drehte sich um und schlug den Weg zum Haus ein.
    Laura betrachtete die Abdrücke, die sie im Sand hinterlassen hatten, und hoffte, dass kein

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