Die Stunde des Adlers (Thriller)
im Kanzleramt. Sie hatte gemerkt, dass Roth unsicher geworden war. Waren über Jahrzehnte die Büroleiterinnen die Macht vor der Türe des Bundeskanzlers, hatte Kuhn diese Phalanx nun locker durchbrochen. Ohne ihre Zustimmung lief hier vom ersten Tag an nichts, da sich alles um die markige Bewegung drehte.
»Was meinst du?« Roth blickte Kuhn im Spiegelbild des großen Fensters, dem sie einen halben Meter näher stand als er, in ihre rehbraunen Augen. Mit Absätzen war die leicht kräftige Kuhn genauso groß wie der offiziell 1,80 Meter lange und schlanke Roth. Während sie fast immer hohe Absätze trug, um schlanker zu wirken, war er laut Pass nur 1,76 Meter. Genau dort trafen sie sich auf Augenhöhe, obwohl sie noch nicht einmal Kabinettsmitglied war. Aber sie war zudem seine Sherpa, seine Lastenträgerin, wie man die Spitzenbeamten nannte, die für die jeweiligen Bundeskanzler die wichtigen Gipfel von EU, G8 oder G20 vorbereiteten. Kuhn war von Beginn an die Prima inter Pares aller Staatssekretäre. Bei offiziellen Anlässen hielt sie sich natürlich zurück, musste sich immer zügeln, sich selbst nicht zu sehr in den Vordergrund zu drängen. Das Gespräch mit dem Bundesbankpräsidenten hatte sie jedoch selbstverständlich am Zweithörer mitverfolgt.
Für die Sache konnte sie sich zusammenreißen, für ihre Sache vor allem. Kuhn hatte keinen Bock darauf, dass faule, doofe oder andere Europäer ihrer Generation den Wohlstand wegnahmen, den sie sich redlich ererbt hatten. Sie war zwar im Grunde auch faul und ließ sich Dinge gerne gebrauchsfertig vorbereiten, aber wenn es um ihre Ziele ging, konnte sie sehr strebsam und eifrig sein. Kuhn war eine Wohlstandsegomanin, leider aber nicht von zu Hause mit dem nötigen Wohlstand ausgestattet. Europa hatte sie allerdings in die Wiege gelegt bekommen, hatte nie dafür kämpfen müssen und wollen. Sie wollte nur haben, nie geben. Psychologen würden das vielleicht auf ihr Einzelkinddasein zurückführen.
Wohlstandsegomanie war die Gemeinsamkeit mit Roth. Er stammte aus ganz kleinen Verhältnissen und hatte nach seiner ersten Scheidung schon die Hälfte abgeben müssen. Nun wollte er nicht auch noch durch die Weichwährung Euro, durch Schuldenübernahme anderer Eurostaaten usw. darben. Jung und Alt vereint in der Sorge um ihr Geld, nicht um das Land.
Geschickt hatte Kuhn als Wahlkampfmanagerin die alten Herren vorgeschickt: neben Roth vor allem auch Regierungssprecher Ferdinand Jessen und den parteilosen Finanzminister Otto Brunnenmacher. Alle um die 60, während an den Schaltzentralen in den Büroleitungen, teilweise in den Abteilungsleitungen und in der Parteizentrale die 30-Jährigen saßen. Jetzt, da das Kabinett und die Zuträger standen, konnte sie ihr Glück kaum fassen. Selbst die Medien spielten mit. Jessen, ein angesehener Ex-Hauptstadtkorrespondent und Ex-Chefredakteur, kümmerte sich offiziell um die lieben Kollegen in den Zeitungsspitzen. Die jungen Experten hielten die Drähte zu den jungen Redakteuren, die die Arbeit machen mussten. Das Netzwerk der Marke »roter Teufel gemixt mit schwarzer Pest« funktionierte perfekt – von Facebook bis zum Filofax, von Partyeinladung bis Parteiveranstaltung. Kaum eine Redaktion, in der nicht einer ihrer »Schläfer« saß.
»Lass mich nur machen.« Sie drehte sich um, damit er sie in voller Größe und Schönheit betrachten konnte. Meistens lenkte ihn das genau für die Sekunde ab, die sie zum Nachdenken brauchte. »Den Trick mit der Sicherheitspolitik und dem Sicherheitskabinett scheint er jedenfalls erst einmal geschluckt zu haben. Den Rest mache ich in Frankfurt.« Ein Lächeln bekräftigte ihre Haltung, und auf dem Weg zu seinem Schreibtisch strich sie ihm einmal sanft über den Arm.
»Wann tagen wir?«
»Um 9 Uhr. Danach fliege ich nach Frankfurt, und du machst deine Antrittsbesuche in den Hauptstädten. Wann bist du noch mal in Paris?«
»Erst am Donnerstag. Ist Brunnenmacher eigentlich wieder fit?« Den neuen Bundesfinanzminister hatte ausgerechnet jetzt eine Diarrhö ereilt, seit gestern kam er kaum mehr vom Klo herunter.
»Nein, ich werde ihn vertreten.« Ihr jetziges Lächeln konnte Roth nicht mehr sehen, da sie bereits an ihm vorbei war. »Der neue Schreibtisch ist schön«, wechselte Kuhn geschickt das Thema, denn sie hatte dem Durchfall ein wenig nachgeholfen. Mit Brunnenmacher hatte sie bewusst einen Finanzminister ins Spiel gebracht, von dem bekannt war, dass er gesundheitlich nicht ganz auf der
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