Die Stunde des Adlers (Thriller)
Höhe war. Und immer wenn er fehlen würde, würde sie ihn vertreten. Heute war so ein Tag, an dem sie den Weltverbesserer Brunnenmacher nicht gebrauchen konnte. Der Coup, Brunnenmacher als Bundesfinanzminister aufzustellen, hatte auch perfekt funktioniert, zumal Jessen der Berliner Presse den erfahrenen ehemaligen Landesfinanzminister schmackhaft gemacht hatte.
»Lass uns noch einmal alles durchgehen.«
Finanzstaatssekretärin Anna-Maria Kuhn nahm vor dem Schreibtisch Platz, während Bundeskanzler Roth sich an seinen Arbeitsplatz setzte. Um die Zeichen der neuen Zeit zu bekräftigen, hatte Roth – auf Kuhns und Jessens Geheiß – den bei der Einweihung des neuen Bundeskanzleramtes extra angefertigten Schreibtisch wegschaffen und ausgerechnet den Tisch von Adenauer und den Stuhl von Brandt holen lassen. Kuhn konnte Symbolik: Westbindung Adenauers und Ostaussöhnung Brandts für ein starkes Europa. Für den Euro-Vater Kohl war da kein Platz. Aus ihrer Sicht war der auch eher der D-Mark-Verräter.
»Was muss ich genau tun?«, fragte Roth fast unsicher seine Staatssekretärin.
»Einen Beschluss des Bundessicherheitskabinetts herbeiführen, in dem die Deutsche Bundesbank aus Gründen der nationalen Sicherheit angewiesen wird, gemeinsam mit Vertretern der Bundesregierung eine Projektgruppe einzusetzen, die die schnellstmögliche Wiedereinführung der D-Mark als gesetzliches Zahlungsmittel ausarbeitet.«
»Ausarbeitet? Nicht etwa prüft?« Roth hatte den langen Satz bis zu diesem Moment mitgeschrieben. Und Kuhn wartete einfach ab, bis Roth »ausarbeitet« aufgeschrieben hatte und dann die rote Kladde schloss, auf der Operation D-Day stand.
10.00 Uhr
Ein Blick auf seine Lange 1 reichte, um zu wissen, dass er viel zu spät dran war an diesem Montagmorgen. Fast zwei Stunden Verspätung hatte seine Maschine aus Venedig gehabt, weil die Abfertigung mal wieder nicht geklappt hatte. Diese Italiener! Ohnehin war Hanns-Hermann von Hartenstein wegen der Streitereien mit den italienischen Verwandten seiner Frau Veronica de Borquese schon schlecht genug gelaunt. Diese Familie!
Er hatte nicht nur eine Italienerin geheiratet, nein, seine Kinder hatten es ihm nachgetan. Von Hartenstein hatte auch noch einen griechischen Schwiegersohn und eine englische Schwiegertochter, die munter in dem Streit Partei gegen ihn ergriffen hatten. Diese Familienfeier!
So manches Mal ging ihm seine geliebte europäische Patchworkfamilie ziemlich auf seine momentan arg strapazierten deutschen Nerven. Wenigstens hatte er jetzt ein paar Tage Ruhe von der Familie, weil alle noch ein bisschen Dolce Vita in Italia machten. Nur Hanns-Hermann ging brav arbeiten. Über eine Stunde zu spät im Büro zu sein, und das in diesen Zeiten, war nichts für das preußische Pflichtbewusstsein von Zentralbereichsleiter Baron Dr. Hanns-Hermann von Hartenstein. Außerdem war sein Handyakku leer, weil irgendein Enkelkind mit dem Handy gespielt hatte. Und offensichtlich war auch sein Vorzimmer verwaist, wie er erst beim Eintreten erkannte. Von Hartenstein schmiss seinen Burberry-Mantel verärgert auf einen Stuhl im Vorzimmer. Zentralbereichsleiter hatten in der Bundesbank nur eine Sekretärin, anders als die Vorstände im zwölften Stock, wo alles etwas anders war. Die da oben hatten nicht nur zwei Sekretärinnen, sondern auch doppelt so viele Fenster, und die Decken waren höher, als strebe man gen Himmel. Doch eigentlich war von Hartenstein vor allem neidisch auf die teuren Kunstwerke an den holzgetäfelten Wänden der Teppichetage. So etwas hätte er auch gerne in seinem stilvollen Büro hängen gehabt.
Noch während er um seinen Schreibtisch herumging, klingelte das Telefon in diesem modernen Ton, den die Tontechniker in der neuen Anlage voreingestellt hatten. Von Hartenstein hasste diesen Klingelton und hatte schon Stein und Bein in Bewegung gesetzt, um einen anderen Ton zu erhalten. Aber wenn in der Deutschen Bundesbank einmal etwas voreingestellt war, so konnte man das selbst als mächtiger Zentralbereichsleiter nicht so einfach ändern.
Die Notenbank der Bundesrepublik Deutschland war eine sehr traditionsbewusste Institution, die seit dem Verlust ihrer geldpolitischen Unabhängigkeit an die Europäische Zentralbank vielleicht noch ein wenig unbeweglicher war als früher. Und von Hartenstein war seit 30 Jahren Bundesbanker. Nicht dass er Modernem gegenüber abgeneigt gewesen wäre, aber ein gutes Maß an Bewährtem war für den Spitzenbeamten im Leben sehr
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