Die Stunde des Raben
geringste Ahnung, was sich tatsächlich hinter den Mauern der Akademie abspielte …
Rufus seufzte. Klar, so war das bei Träumen immer. Man verarbeitete in ihnen eben das, was einem tagsüber so durch den Kopf schoss. Und diesen Traum hatte er gehabt, nachdem Anselm, einer der älteren Lehrlinge, in Flutkunde erzählt hatte, dass bald der nächste Elternbesuchstag anstünde. Rufus hatte daran gedacht, dass er seine Mutter dann zum ersten Mal wiedersehen würde, seit er hier war. Und er hatte sich gefragt, wie er ihr alles, was er bisher erlebt hatte, nicht erzählen sollte. Denn die Wahrheit durften nur die Mitglieder der Akademie wissen. Nach außen hin galt die strikte Tarnung als Eliteinternat.
Unwillkürlich griff Rufus an den Lederbeutel, den er wie jeder Lehrling am Gürtel trug. Darin bewahrte er sein Fragment auf, dessen Geschichte er erforschte. Außerdem aber hatte er in seinem Beutel eine rote Locke seiner Mutter verborgen, mit der er hoffte, mittels der Kräfte der Akademie irgendwann in die Vergangenheit gelangen zu können. In die Zeit, als seine Mutter noch keine eiskalte Geschäftsfrau gewesen war, sondern einfach nur seine Mutter. Auch wenn er nicht wirklich wusste, was er dann tun sollte. Denn reden konnte man mit den Gestalten der Vergangenheit in den historischen Fluten nicht.
Rufus spürte, dass er Hunger hatte. Heute Morgen stand in Antike Ballsportarten ein römischer Sport namens Ludere raptim auf dem Stundenplan, und der Unterricht bei Meisterin Abel und Meister Hardy würde ganz sicher anstrengend werden. Rufus musste grinsen. Vielleicht hatte er ja deswegen von der merkwürdigen Kochstelle im Wald geträumt, weil ihm der Magen knurrte …
Für den Unterricht war er mit No verabredet. Rufus und er hatten beide noch keine Ahnung, wie das Ballspiel funktionierte, aber No hatte ihrem Mitlehrling Ottmar von Mittelbach versprochen, dass sie zusammen eine Mannschaft bilden würden.
Nur, wo blieb No überhaupt? Normalerweise stand er immer überaus rechtzeitig auf, wenn Antike Sportarten auf dem Plan standen, und holte Rufus ab.
Schnell stieg Rufus in den speckigen Lederschurz, den er in seiner ersten Sportstunde getragen hatte und seitdem immer in diesem Unterricht anzog.
Im nächsten Moment rannte er schon aus dem Raum.
Nos Zimmer lag seinem schräg gegenüber. Doch als Rufus den Kopf hineinsteckte, sah er auf den ersten Blick, dass es leer war. Leer im Sinne von, dass No nicht da war. Ansonsten war der Raum vollgestopft mit Werkzeugen, Metall- und Holzteilen und Bergen von angefangenen Konstruktionszeichnungen. No liebte die praktische Arbeit. Als er sich Rufus und Filine, die mit den beiden Jungen zusammen ebenfalls neu an die Akademie gekommen war, vorgestellt hatte, hatte er sich sogar als Erfinder bezeichnet. Und irgendwie stimmte das auch. Was No tat, tat er am liebsten mit den Händen. Und dabei kam er auf die verrückteste Art immer wieder zu den Lösungen, die er suchte. Bücher dagegen fasste er nicht so gerne an …
Rufus drehte sich um und zog weiter, in die Mensa. Während er über die Wendelrampe, den gewundenen schneckenhausförmigen Gang, der die Geschosse der Akademie statt eines Treppenhauses miteinander verband, nach unten ging, dachte er an sein Fragment, an dem er die Nacht über geforscht hatte.
Noch war er dem Geheimnis der dunklen Glasscherbe kein Stück weit auf die Spur gekommen, ganz davon zu schweigen, dass sich Anzeichen einer Flut gezeigt hätten. Auch wenn Rufus sich der Arbeit mit ganzer Kraft widmete.
Die Fragmente waren einer der wichtigsten Teile des Geheimnisses der Akademie. Jeder der Lehrlinge und Gesellen hatte ständig ein solches in einem Lederbeutel bei sich. Keiner von ihnen wusste, von was für einem Ding das Fragment stammte. Natürlich war klar, ob es ein Metallsplitter, eine Glasscherbe, ein Stoff- oder Lederfetzen, ein Holzspan oder das Bruchstück irgendeines anderen Materials war. Aber von was für einem Menschenwerk es übrig geblieben war, konnte niemand sagen. Die Aufgabe jedes Schülers war es, durch eigene Forschung herauszufinden, zu welchem Artefakt das Fragment ursprünglich gehörte. Und wenn es einem gelang, auf die richtige Spur zu kommen, konnte es passieren, dass das Akademiegebäude selbst den nächsten Schritt zur Lösung des Rätsels beisteuerte. Denn dann konnte eine historische Flut eintreten.
Rufus überlief eine Gänsehaut, wenn er nur daran dachte. Diese historischen Fluten waren das unglaubliche Geheimnis der
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