Die Stunde des Wolfs
erstarrte – das kam aus dem Durchgang vor dem Mannschaftsquartier. Er horchte angestrengt, doch alles, was er hörte, war der nächste Schuss von der M 56. Er hatte keine Ahnung, wohin die Granate ging – irgendwo in ihren Rauchwolken Steuerbord, da, wo sie jetzt wären, hätten sie nicht den Kurs geändert. Weit draußen hinter ihrem Heck war noch so eben der Suchscheinwerfer auszumachen, der jetzt, vom Rauch geblendet, verzweifelt nach links und rechts schwenkte.
Er traf eine Entscheidung und rannte nach achtern, wo er sich auf den Bauch legte und übers Deck hängte, um das Heck des Schiffs unter sich sehen zu können. Etwa die halbe Rundung des Rumpfs hinunter sah er das Loch von ungefähr einem Meter Durchmesser, aus dessen zerfetztem Rand bei jeder Senkung des Schiffs ein Schwall Wasser sprudelte – der Ballast im achtern befindlichen Laderaum. Nichts Lebensbedrohliches. Der Minenräumer feuerte immer wieder, er hörte den Widerhall, sah jedoch keine Blitze mehr.
Als er gerade aufstand, kam Ratter zurück. »Was ist passiert?«, fragte De Haan.
»Wir haben's geschafft. Aber es lief nicht so glatt. Kees hat einen Schuss abbekommen – ins Bein, nicht schlimm, aber schlimm genug, Shtern ist jetzt bei ihm. Und Amado wurde an der Kehle getroffen. Er ist bewusstlos.«
»Wird er's überleben?«
Ratter schüttelte den Kopf. »Shtern hat getan, was er konnte.«
Die M 56 feuerte noch einmal, diesmal schon aus weiter Ferne. Ratter starrte achtern in die Dunkelheit hinaus. »Weg«, sagte er. »Jetzt haben wir bis zum Morgengrauen.«
Hoch über ihnen flog ein weiterer Bomberschwarm Richtung Osten.
02.30 Uhr. In See.
Kovacz hatte die Kessel wieder auf Normalbetrieb umgestellt, so dass der dunkle Rauch verschwunden war. Doch sie fuhren immer noch schnell, mit vierzehn Knoten, mit Kurs ein paar Striche nördlich von Ost, um den Marinestützpunkt in Memel zu umgehen und den Hafen von Liepaja anzusteuern. Oder Lipava – der bei den Handelsseeleuten geläufige Name. De Haan war dort über die Jahre schon ein paar Mal ein- und ausgelaufen; Lettland lieferte Holz und importierte Kohle, was Trampschiffe erforderte. Für die Deutschen war es Libau. Ihnen hatte das Land jahrhundertelang gehört, sie hatten sich Schwertbrüder genannt – in den baltischen Kreuzzügen Deutschritter, bis 1918 die Unabhängigkeit kam und der Name wechselte. Und dann kam 1940, und alles änderte sich – in die sowjetische Republik Lettland.
Russland. Wo Maria Bromen besser nicht hinging und andere an Bord vielleicht ebenso wenig, er konnte es nicht sagen. Andererseits gab es auf der ganzen Welt keinen Hafen mehr, wo sie nicht darauf warteten, irgendjemanden zu verhaften. Nun ja, mit ihrer wahren Identität würde sie auch keinen Fuß auf irgendeinen Pier der Welt setzen, dafür wollte er sorgen. Er hatte sie gefunden, als Ratter mit ihm zur Brücke zurückging; sie wartete bei den Rettungsbooten, so, wie er sie gebeten hatte. Er sagte ihr, wohin sie fuhren, und schickte sie in die Kajüte zurück – Pläne schmieden konnten sie später, fürs Erste konnte sie schlafen. Gott, ich wünschte, ich könnte es auch. Nicht bis 04.00 Uhr, wenn Ratter kommen würde, um ihn abzulösen. Er gähnte, hob das Fernglas an die Augen und starrte in die leere Dunkelheit. Er hatte Scheldt am Ruder ablösen lassen und ihn ins Mannschaftsquartier zurückgeschickt. Armer Amado. Sie würden ihn bei Tagesanbruch zusammen mit den zwei Deutschen auf See bestatten – falls die Noordendam dann noch über Wasser war. Acht Mal hatte er in all den Jahren eine solche Bestattung durchgeführt. Der in Segeltuch gewickelte Leichnam wurde auf verstrebte Planken gelegt, von sechs Männern an die Reling gehalten und, wenn der Kapitän sagte: »Eins, zwei, drei, in Gottes Namen«, gekippt.
»Kaptän De Haan? Herr Kaptän?«
»Ja?«
»BBC, Herr Kaptän.«
»Ja? Roosevelt spricht?«
»Deutschland marschiert in Russland ein.«
22. Juni, 04.10 Uhr. In See.
In der Kajüte war die Lampe an, und Maria Bromen saß, nur mit seinem Arbeitshemd bekleidet, im Schneidersitz auf dem Bett. »Ist erledigt«, sagte sie. Er folgte ihrem Blick zum Nachttisch, wo ein kleines Häufchen geschwärzter Flocken im Aschenbecher lag. »Wirklich traurig«, sagte sie. »Nach allem, was ich getan habe.«
»Und das Foto?«
»Ja, das auch, wegen Stempel.« Beinahe lächelte sie. »Was für ein Foto – diese verrückte Frau ist wütend.« Und dann: »Ach ja, sagen wir auf Wiedersehen zu
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