Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Stunde des Wolfs

Die Stunde des Wolfs

Titel: Die Stunde des Wolfs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Furst
Vom Netzwerk:
Strom aus grünem Phosphor ergoss sich hinter ihm. Er rannte davor weg, doch die Mistkerle wollten ihm diese Nacht keine Ruhe geben. Die Splitter vom Luftabwehrfeuer kamen aufs Pflaster geprasselt, und so hielt sich Kolb seine Aktentasche über den Kopf, während er rannte.
    Dennoch war er ausgelassen, dankte seinen Sternen, dass er von diesem verfluchten eisernen Seemonster mit seinen lakonischen Holländern herunter war. Bohnen und Dosenfisch, der Geruch von öligem Rauch beim Essen, Schlafen und Lesen in der Nase. Hatte er sein Buch dabei? Ja, er hatte die ›Geschichte von Venedig‹ in der Tasche – drei Pfund Dogen, jetzt drück dich einfach an eine Hauswand, damit es nicht von einem heißen Metallsplitter aus dem Himmel aufgespießt wird. Wo zum Teufel war er nur? Die Straßennamen waren an den Gebäudeecken in den Stein gehauen, also, das hier war die Vitolu iela  – na klar! Die gute alte Vitolu iela , was für glückliche Zeiten wir da hatten! Hatte er Zeit seines Lebens jemals einen Straßenplan von Liepaja in der Hand gehabt? Nein. Wer denn schon? Was für Verrückte kamen an so einen gottverlassenen Ort?
    Er hörte die Bombe pfeifen, seine Knie wurden butterweich, er zog den Kopf ein und hastete in einen Hauseingang. Hielt den Atem an, als das Ding ein paar Häuserblocks entfernt herunterkam. Ha, daneben! Er versuchte, den Türknauf zu drehen, doch sie war abgeschlossen. Auf einem angelaufenen Messingschild stand, dass sich hier eine Kunstschule befand, spezialisiert auf ichthyologische Illustrationen. Das also machen sie hier, Fische zeichnen. Über dem Schild hatte jemand in Druckbuchstaben ›Geschlossen‹ auf ein Kärtchen geschrieben und an die Tür geheftet.
    Irgendwo vor ihm ein brennendes Gebäude. Die Flammen warfen flackerndes orangefarbenes Licht auf die Straße, und einen Moment lang bewegte sich darin ein Schatten. Was war das? Bitte keine Polizei. Wieder bewegte es sich – eine Frau, aus einem Hauseingang in den nächsten. Er lief zwei Türen weiter und wartete. Nicht lange. Sie war außer Atem und dick und trug eine Terrine in den Händen, über die sie ein Geschirrtuch gebreitet hatte. War das Suppe? Oh ja, bei Gott, und ob! Erbsensuppe! Nichts sonst hatte diesen unverwechselbaren Geruch. »Guten Abend, Madame«, sagte er auf Deutsch.
    Sie machte ein Geräusch wie einen kehligen Schrei und hob eine Hand an die Gurgel.
    Kolb setzte seine Aktentasche ab und – der Gott der Inspiration suchte ihn heim – tippte zum Gruß an den Hut.
    Die Frau legte die Hand wieder auf die Schüssel.
    »Madame, können Sie mir wohl sagen …« Zwei Flugzeuge donnerten in etwa dreißig Metern Höhe über die Straße, er konnte sein eigenes Wort nicht verstehen. Dann waren sie weg. »Madame«, sagte er mit erhobener, aber freundlicher Stimme. »Können Sie mir sagen, wo ich den Bahnhof finde?«
    »Was?«
    »Ganz ruhig, meine Liebe, Ihnen wird heute nichts passieren.«
    Sie sah ihn an und zeigte dann in eine Richtung.
    »Eisenbahn?«
    Sie nickte.
    »Wie weit?«
    »Zwanzig Minuten.«
    Wieder tippte Kolb an den Hut. Hätten Sie vielleicht einen Löffel für mich?
    »Noch einen guten Abend, Madame«, sagte er und eilte die Straße rauf davon.
    Nun war es bei einem Luftangriff so ziemlich das Dümmste, sich in einem Bahnhof aufzuhalten, doch Kolb musste nur in der Nähe sein – es tat ja schon irgendein Café oder Flur –, weil die Züge erst fahren würden, wenn die Bomber müde waren und nach Hause flogen. Er hatte keine sowjetischen Papiere, doch mit Bestechung kam man in diesem Imperium recht weit, und jetzt, wo Adolf an die Stadttore hämmerte, sollte es erst recht kein Problem sein.
    Personen- oder Schnellzug, er würde heute Nacht in der Eisenbahn sitzen. Eine kurze Fahrt ins bezaubernde Riga, ›das Paris der Hölle‹, dann ein Besuch im britischen Konsulat. Wo er nachschlagen würde, wie der zuständige Beamte für Passangelegenheiten hieß, der fast immer mit den Leuten von der Spionage in Verbindung stand, falls er nicht sogar den Laden leitete. Auch noch im Konsulat: sichere Funksendungen – oder was sie dafür hielten. Hör mal, Brown, alter Knabe, einer von deinen Jungs ist hier aufgetaucht – wollte nach Malmö, sagt er, scheint aber ein bisschen vom Weg abgekommen zu sein.
    Bitte um Anweisung.
    Und der widerwärtige Brown hatte ganz bestimmt etwas im Ärmel. Etwas Gefährliches natürlich, etwas unsäglich Schwieriges und Ödes.
    Wieder auf der Straße, aus der er gerade gekommen

Weitere Kostenlose Bücher