Die Sturmrufer
wurde es kühl. Wellen schwappten bis zu Ambers Füßen, dann durchnässte sie ein eiskalter Regen. Die Wächter erstarrten und wandten sich dem Tümpel zu.
Amber blinzelte.
Ein Kreischen schwoll an und vermischte sich mit dem Donnern des Sturmwinds. Die Vögel ballten sich wie eine Wolke aus Flügeln über dem Wasser.
»Runter!«, rief Sabin. Gemeinsam drückten sie sich flach an den Boden. Gerade noch rechtzeitig, bevor eine Sturmbö sie gegen die Wand schleudern konnte. Dann brachen gewaltige Flügel aus dem Wasser.
*
Sabin sah schimmernde, nasse Federn und abgerissene Schuppen, die sich als schillernder Regen in der Luft drehten. Das Wesen trug alle Farben eines Sturms in seinen Schwingen: dunkle Schlieren und helle Wirbel, das Blaugrau von Sturmwolken und die Schwärze eines Orkans. Die Farben flossen und vermischten sich bei jedem Flügelschlag, ordneten sich neu, als wäre das Wesen flüssige Magie, die eine Form angenommen hatte. Sabin sah ein Netz aus Seilen, das beim nächsten Flügelschlag zerriss und ein weiteres Stück der Gestalt freigab. Ein Auge blitzte auf, schräg und grau und funkelnd, in einem Gesicht, das so menschlich war, dass Sabin die Luft wegblieb. Sie krümmte sich unter dem wütenden Blick. Die strenge, grausame Schönheit des Gesichts erinnerte sie an einen Adler und einen Naj. Am auffälligsten war die regelmäßige Fleckenzeichnung auf der Stirn – es wirkte, als würde eine Perlenkette die Stirn des geflügelten Dämons zieren. Und plötzlich verstand sie. »Najadur!«, flüsterte sie. Beinahe hätte sie gelacht, obwohl ihr zum Heulen zumute war. Der Naj hatte die Wahrheit gesagt. Nur hatte sie nicht genau zugehört.
Ein langer, schmaler Körper folgte, Rippenbögen unter glatten Federn, Kiemenspalten am Hals.
Noch ein letzter Flügelschlag und die dämonische Gestalt erhob sich ganz aus dem Wasser und schlüpfte endgültig aus seinen Fesseln wie aus einem Kokon. Sabin bekam keine Luft mehr, ein Sog zerrte an ihr. Ihre Kopfhaut kribbelte, als würde die Magie über sie hinwegkriechen. Sie legte ihren Arm über Ambers Rücken und drückte sie zu Boden.
Staub folgte dem Pfad des Wirbelwindes, funkelnder Staub, der jedem Stein zu entweichen schien. Die Wächter lösten sich aus ihrer Erstarrung und ließen ihre Speere los, die der Wind gegen die Mauern schmetterte. Der Tote schwankte nur, dann nahm der Wind auch ihm das Gleichgewicht und er stürzte zu Boden.
*
Amber blinzelte gegen den Wind an und erkannte, dass der Haufen Seile am Rand des Tümpels sich regte. Eine Hand erschien, dann ein blasses Gesicht. Vor Erleichterung hätte sie am liebsten geheult. Sie machte sich von Sabin los und kroch zu Inu, während der Wind an ihrem Haar zerrte, als wollte er es ihr in großen Büscheln ausreißen. Wenn sie jetzt auf die Beine kam, würde eine Bö sie gegen die Mauer schmettern. Holz ächzte und knarrte, Dachziegel prasselten neben ihr herab, aber sie erreichte den Seiler unversehrt. Sie klammerten sich aneinander und duckten sich hinter einen der größeren Steine.
Das Wesen erhob sich in den Himmel. Amber spürte die Gänsehaut an ihren Armen und ihrem Körper, als würde etwas Kühles darüberstreichen wie unsichtbarer Nebel. Es war wie ein gewaltiges Atemholen und Verharren, ein Flirren und Schimmern löste sich aus dem Holz, den Steinen und der Mauer und wurde nach oben gesogen. Die Wesen sanken in sich zusammen. Das Leben wich als schimmernder Atem aus ihren klaffenden Mündern, der Tote lag reglos, eine Hülle ohne Stimme.
»Die Magie verlässt die Burg!«, schrie Inu ihr ins Ohr und hustete. »Wir müssen in den Steinturm – der einzige Raum, der nicht mit dieser Magie geschaffen wurde! Schnell!«
Sie kamen auf die Beine, stolperten zu Sabin und rannten über den Hof. Das Letzte, was Amber von dem Wesen sah, bevor sie die Tür hinter sich schlossen und in den Gewölbekeller stolperten, war das Bild einer Wolke aus Flügeln und das grausame Gesicht des dämonischen Vogelwesens. Es leuchtete vor einem wirbelnden schwarzen Himmel wie die Lichtfunken, die man sieht, wenn man die Augen vor Schmerzen schließt.
Najadur
D er Sturm hatte lange getobt. Selbst durch die dicken Steinwände hatten sie das Splittern von Holz gehört. Und als es endlich still war, warteten sie noch die ganze Nacht, bevor sie sich hinauswagten und vorsichtig die hölzerne Kellertür aufdrückten. Es kostete Inu und Sabin einige Mühe, denn sie mussten einen Haufen Sand
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