Die Sturmrufer
wegschieben. Sonnenlicht fiel ihnen in die Gesichter. Geblendet nach der Nacht in der Dunkelheit trat Sabin staunend auf ein sandverwehtes Felsplateau. Dort, wo die Halle gewesen war, lagen nur noch einige Fetzen und ein Schädel, halb Wasserwaran, halb Mensch, in dessen zerbrochener Augenhöhle Ambers Stock stak. Das Wasserbecken glich einem dunklen Spiegel, die hölzerne Galionsfigur aus der Mauer lag zerbrochen neben einem Felsen. Die Mauern, die drei Türme, die Galerie – alles war zerfallen und vom Sturm über die Klippe getragen worden, als die Magie es nicht mehr hielt. Nur der Turm der Muschelzüchter stand noch – wenn auch ohne Dach. Der letzte Überrest einer Zeit, in der die Insel von Magie unberührt gewesen war. Unter ihnen leuchtete das Meer wie eine Fläche aus geschliffenem Lapislazuli. Und weit am Horizont, der nicht länger von einer Nebelwand verhüllt war, erkannte man wie die Rücken von ruhenden Meerestieren weitere winzige Inseln.
»Kein einziger Vogel mehr«, flüsterte Amber. »Die Stürme haben aufgehört, nicht wahr?« Sie war blass, ihr Mund war vor Schmerz verkniffen und ihr ehemals orangegelbes Tuch war dunkel verfärbt von getrocknetem Blut. Inu, der sie stützte, nickte und strich ihr behutsam das Haar aus der Stirn. Sie wird Fieber bekommen, war Sabins erster Gedanke. Und ihr zweiter: Wir brauchen ein Floß.
*
Sabin war den ganzen Weg gerannt. Sie fühlte sich, als würde sie im Traum laufen, ohne von der Stelle zu kommen – über eine Insel, die sie nie zuvor gesehen hatte. Der Wind hatte keinen Stein auf dem anderen gelassen. Kein Baum stand mehr, Büsche und Farne waren verschwunden, als hätte eine gewaltige Hand sie von der Insel gefegt und die Felsen poliert. Sabins Lungen schmerzten bereits, als sie endlich am Strand ankam. Erleichtert spürte sie den Sand zwischen den Zehen. Entwurzelte Marjulabäume lagen halb im Sand begraben, die Wracks hatte der Sturm ins Meer zurückgetrieben. Sabin suchte mit der Hand nach ihrer Kristallbrille und wandte sich dem Meer zu. Die Sonne blendete sie und ließ die Wellen gleißen. Beinahe hätte sie sich eingebildet, die Timadar zu sehen, die vor den Felsen trieb. Die Segel waren zusammengebunden, nur ein Mast war an der Spitze geborsten. Sabins Herz machte einen Satz. Es war nicht die Timadar, aber es war ein anderes Schiff 1 . Sie nahm Anlauf und stürzte sich in die Fluten.
Das Schiff war bauchig und klein, zusammengeflickt und schäbig trotz der sorgfältig aufgetragenen Schicht Teer, die den Rumpf vor Schnecken und Muscheln schützen sollte. Sabins Blut rauschte in den Ohren, während sie unter Wasser heranschwamm und das lose, abgerissene Ankerseil ergriff, das im Wasser trieb. Prustend tauchte sie auf und sah den Namen auf dem Schiffsrumpf: Jontar.
Sumal Bajis Schiff!
»Du lebst«, sagte eine wohlbekannte, rauschende Stimme hinter ihr. Sie fuhr herum und sah den Naj. Seine Schleier trieben auf dem Wasser, die Perlenzeichnung auf der Stirn ließ ihn trotz aller Fremdheit beinahe vertraut wirken.
»Hast du das Schiff hierhergebracht?«, fragte sie.
Der Naj schnalzte. »Sehe ich so aus, als würde ich Sterbliche retten? Es muss wohl von Dantar hierhergetrieben worden sein. Die Strömungen sind tückisch.«
Sabin zog die Brauen hoch, doch sie widersprach ihm nicht. »Du bist nun frei«, sagte sie stattdessen.
»Ich war nie gefangen«, gab der Naj zurück.
»Nein, aber ein Wächter warst du dennoch. Du hast über den gefangenen Jadur gewacht.«
Wäre der Naj ein Mensch gewesen, hätte er wohl anerkennend die Augenbraue hochgezogen.
»Ihr seid die Kinder der wahren Magie«, fuhr Sabin fort. »Das wolltest du mir mit deinen Worten sagen. Die Naj und die Jadur – waren sie früher…«
»… ein Wesen«, raunte der Naj. »Erst als das Land entstand und die Menschen uns bedrängten, trennte uns die wahre Magie in die Wesen am Himmel und die Wesen im Wasser. Die Naj blieben im Majumameer, wie ihr es nennt, die Jadur dagegen tragen die Winde in die großen Höhen. Doch jeder von uns bleibt mit seinem Jadur am Himmel verbunden.«
»Und der Jadur, den die Magier gefangen hatten, gehört zu dir. Seine Magie kann die Winde rufen. Lemar und die anderen wollten sich diese Magie leihen, um die Vögel zu lenken. Doch der Jadur war stärker, als sie glaubten. Die Bäume, aus denen Aale schlüpften, die Wesen der doppelten Natur… das war er.«
»Nimm ein Wesen aus der Luft und zwinge es ins Wasser und du vermischst Dinge, die
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