Die Süße Des Lebens
›Mensch ärgere dich nicht‹«, sagte die Mutter, »beides, manchmal das eine, manchmal das andere.« Ihre kleine Tochter sei plötzlich im Vorzimmer gestanden und habe beim ersten Hinsehen gewirkt wie immer; ein wenig erfroren vielleicht, aber draußen sei es in letzter Zeit ja ständig ziemlich kalt gewesen. Der Hund habe sich gleich komisch verhalten, wenn sie recht überlege, angespannt und irritiert, so als sei jemand im Raum, den er nicht mochte. Kovacs machte einen Seitenblick zu Sabine Wieck. Sie wird sich all diese Dinge merken, dachte er, zum Beispiel: ›ein wenig erfroren‹ und ›als sei jemand im Raum‹. Außerdem passte ihr die Uniform wirklich nicht.
»Katharina hat die Hand vorgestreckt und die Faust geöffnet«, erzählte die Frau, »da waren die beiden Stöpsel vom ›Mensch ärgere dich nicht‹, ein gelber und ein blauer. Emmy hat die Ohren zurückgelegt und Katharina hat etwas Komisches gesagt – ›vier, vier, ich hab dich‹. Dann hat man gesehen, dass ihre Finger voller Blut waren, und sie hat ab diesem Zeitpunkt kein Wort mehr gesprochen.« Einige Zeit hätten sie alle geglaubt, Katharina habe sich irgendwo verletzt, und weil sie nichts gesagt habe, auch nicht gejammert oder dergleichen, sei sie in ihrer eigenen Hilflosigkeit mit ihr ins Badezimmer gegangen und habe ihr zuerst die Hände gewaschen, sie dann komplett ausgezogen. Es sei aber keine Verletzung zu finden gewesen.
»Welche Finger?«, fragte Sabine Wieck. Die Frau verstand nicht gleich.
»Welche Finger waren voller Blut?«
»Daumen, Zeigefinger, Mittelfinger«, sagte die Frau, streckte ihren eigenen rechten Zeigefinger aus und krümmte Mittelfinger und Daumen darunter ein wenig ein, »so, als habe sie irgendwo hineingetupft.«
»Hineingetupft?«
»Ja, das haben wir aber erst viel später überlegt. Hineingetupft – es muss so gewesen sein.«
Sie habe erst drüben bei ihrem Vater angerufen, doch er habe nicht abgehoben. Das passiere öfters, denn gehörmäßig sei er nicht mehr der Beste. Nach dem dritten Versuch habe sie dann Georg, den Sohn, hinübergeschickt, denn daran, dass etwas passiert sein könnte, habe zu diesem Zeitpunkt noch keiner gedacht. Georg sei fünf Minuten später wieder zurückgekommen; der Großvater sei nicht da gewesen. »Ist dir im Haus des Großvaters etwas aufgefallen?«, fragte Kovacs. Der Bub schüttelte den Kopf. Er war einer jener rundlichen Zwölfjährigen, bei denen das Haar fett zu werden begann.
»Stand die Haustür offen?«
»Nein, die war zu.« Wache Augen, in der Stimme noch keine Spur von Pubertät.
»War drinnen Licht?«
»Ja, drinnen war Licht – die Lampe über dem Tisch, und auf dem Tisch war das ›Mensch ärgere dich nicht‹.«
»Und der Großvater war nicht da?«
»Nein, der war nicht da.«
Er habe ihn gerufen und keine Antwort bekommen. Auch im Schlafzimmer und im Bad und auf dem Klo sei er nicht gewesen.
»Und draußen?«
Der Bub schüttelte erneut den Kopf. »Draußen war er auch nicht.«
»Ich meine: Hast du ihn gerufen?«
Nein, er habe ihn nicht gerufen, denn es sei kalt gewesen und finster.
»Und da hast du nur geradeaus geschaut und bist auf dem kürzesten Weg zurückgerannt?« Sabine Wieck hatte sich ein wenig vorgebeugt. Sie ist aufmerksam, dachte Kovacs, sie stellt die richtigen Fragen und sie versteht Kinder. Der Bub nickte. »Und Emmy hat mich angeknurrt«, sagte er, »ohne Grund.«
»Was ist sie für ein Hund?«
»Ein Border-Collie.« Es klang immer sehr bestimmt, wenn das größere Mädchen etwas sagte. Ein wenig pummelig, dachte Kovacs, Speck um die Mitte, eine hübsche Brille. Eine wunderbare große Schwester, ohne Zweifel. Später würde sie werden wie ihre Mutter.
Ihr Vater habe immer wieder Spaziergänge gemacht, auch abends, erzählte die Frau. Vor allem den Platz auf der Kuppe hinter der Scheune habe er geliebt. Dort habe er sich neben dem Stoß mit den Fichtenscheiten auf einen Hackstock gesetzt und oft stundenlang in die Berge geschaut oder hinunter auf die Stadt. »Daher haben wir auch nicht gleich geschaltet«, sagte der Mann, »Katharina hat sich zwar erst ein wenig komisch verhalten und die ganze Zeit durch uns hindurchgeschaut, aber dann hat sie sich vor den Fernseher gesetzt, und es war alles ziemlich normal.«
»Erst als ich ihr beim Schlafengehen diese Stöpsel aus der Hand nehmen wollte und sie panisch zu brüllen begann, haben wir überlegt, ob da nicht doch irgendwas passiert ist«, erzählte die Frau. »Sie hat die Augen
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