Die Süße Des Lebens
etwas sagte, obwohl er mit dem ganzen fernöstlichen Zeugs rein gar nichts am Hut hatte. Er sah, wie sie sich tatsächlich umschaute. Über dem Wohnhaus stand die Wintermorgensonne wie auf einem Kalenderfoto.
Der Mann und die Frau, die ihnen in der Tür gegenüberstanden, wirkten geschrumpft. Das war in derartigen Situationen immer so. Man ging auf Menschen zu, die soeben etwas Furchtbares erlebt hatten, und sie wirkten, als wären sie unmittelbar davor um einen halben Kopf kleiner geworden. Der Schwiegersohn und die Tochter. Ernst und Luise Maywald.
Kovacs begann seinen Spruch immer gleich: »Die allerschrecklichsten Dinge erweisen sich in der Regel als Unfälle.« Er sagte das auch in Situationen, in denen er wusste, dass es unter Garantie ein Blödsinn war. Er dachte dann an dieses Kind und die Aluminiumschiene und wusste, dass er zumindest ein Stück im Recht war. Da man also immer erst von einem Unfall ausgehen müsse, ein Verbrechen jedoch nicht hundertprozentig auszuschließen sei und für die Aufklärung die ersten Eindrücke und die frischesten Erinnerungen von zentraler Bedeutung seien, sei er gezwungen, Mitgefühl und Rücksichtnahme hintanzustellen et cetera et cetera. Jeder verstand das, keiner regte sich auf. Im Gegenteil, die Leute waren froh, wenn sie reden durften.
Das Vorzimmer war groß und quadratisch, wie in den meisten der alten Bauernhäuser. Ein Boden aus gelben Schieferplatten. Die Wand entlang, der Eingangstür gegenüber, ein schmaler, langer Flickenteppich; auf ihm eine Reihe von Stiefeln.
Im Wohnzimmer zuerst ein Hund, der im Weg stand, knurrte und die Zähne fletschte. »Emmy!« – Die Frau. Der Hund gehorchte aufs Wort. Der Fußboden aus geöltem Lärchenholz, breite Bretter. Kovacs hatte es mit Böden. Er konnte sich nicht erklären, woher das kam. Die Wand ringsum mit hellem Holz getäfelt, Ahorn oder Birke. »Sie haben es sehr schön hier«, sagte Sabine Wieck, »hell und freundlich.« Sie sieht das Richtige, dachte Kovacs. »Mein Mann ist gelernter Tischler«, sagte die Frau. Sie war mittelgroß, kräftig, trug Jeans, einen weinroten Baumwollpullover und einen Stirnreifen über dem halblangen dunkelblonden Haar. Sehr entschlossen, dachte Kovacs, sie weiß, was sie will, und der Mann weiß, was er an ihr hat.
Ein großer Kachelofen mit einem kuppelförmigen Aufbau. Auf der umlaufenden Bank drei Kinder, ein vielleicht vierzehnjähriges Mädchen und ein etwas jüngerer Bub. Die beiden hatten ein kleines Mädchen in die Mitte genommen. Kovacs dachte: »Das darf nicht sein!« Dann reichte er allen die Hand. Die Frau habe ich schon einmal gesehen, dachte er, in der Stadt, im Supermarkt, an der Tankstelle, irgendwo.
»Wollen Sie mit allen gemeinsam reden?«, fragte die Frau. Ihre Trauer hält sich in Grenzen, dachte Kovacs, und sie versucht sich vorzustellen, was passieren soll. Der Mann stand ein wenig im Hintergrund, kaute an seiner Oberlippe und hatte die rechte Hand in der Hosentasche. Die Kinder saßen ruhig da; das ältere Mädchen flüsterte dem Bruder etwas zu, über die Kleine hinweg. Die Sache würde gehen.
Der Mann holte vier Stühle. Die Kinder durften bleiben, wo sie waren. Der Hund legte sich vor die Füße des kleinen Mädchens. Es dreht sich viel um die Kinder, dachte Kovacs. Sabine Wieck holte Block und Stift aus der Innentasche ihrer Jacke. Er würde sie bei Gelegenheit fragen, ob sie Lust hätte, in sein Team zu wechseln.
»Wie kann so etwas geschehen?«, fragte die Frau, »wer macht so etwas?« Sie presste sich Daumen und Zeigefinger an die Augen. Kovacs wartete einige Sekunden. Sie glaubt nicht an einen Unfall, dachte er, und sie denkt nicht im Plural. »Wer hat den Großvater gefunden?«, fragte er. Der Mann hob den Kopf und schaute seine jüngere Tochter an. »Unser Großvater war immer vorsichtig«, sagte das ältere Mädchen und schluckte heftig. Der Bub nickte bestätigend. Sabine Wieck räusperte sich. Die Frau wies erst auf das jüngere Mädchen, dann auf den Hund. »Katharina hat den Großvater gefunden«, sagte sie, »und Emmy.«
Ihre Tochter sei am Vorabend drüben gewesen wie zuletzt jeden Tag, erzählte Luise Maywald, überhaupt hätten alle drei Kinder eine ausgesprochen gute Beziehung zum Großvater gehabt. Wie man sich das halt so vorstelle – Spazierengehen, Geschichtenerzählen, ›Schwarzer Peter‹-Spielen. »Mensch ärgere dich nicht«, sagte das ältere Mädchen. – Ursula, wenn Kovacs sich das richtig gemerkt hatte. »Natürlich auch
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