Die Süße Des Lebens
länger.
Knochensplitter waren zu sehen, ein Stück Zahnprothese, graue Haare. Ein Augapfel war unversehrt geblieben, das wirkte komisch. Er lag ziemlich zentral unterhalb des weitgehend intakten Brauenbogens und war eine Spur nach links außen verdreht. Ansonsten: zerrissene Haut und jede Menge geronnenes Blut.
Über den Kopf gefahren, dachte Kovacs, er rutscht aus, fällt hin, und einer fährt ihm über den Kopf. Derjenige steigt aus dem Auto, zieht ihn die Rampe hoch und drapiert ihn dorthin – so ein Schwachsinn.
Eine Jacke aus dickem, ockerfarbenem Tweed. Ein Stoff, wie man ihn sonst nirgends mehr bekam. Drei der vier Knöpfe waren geschlossen. Eine moosgrüne Cordhose, unten aufgekrempelt. Hohe schwarze Schnürstiefel, wahrscheinlich lodengefüttert. Ältere Männer trugen so etwas gerne. Keine Handschuhe, keine Mütze. Er wollte ins Freie, dachte Kovacs, aber nicht für lange.
Ein Streifenwagen blieb in einiger Entfernung stehen. Töllmann und Sabine Wieck stiegen aus. Sie sahen sich um und kamen dann langsam auf Kovacs zu. Töllmann blieb immer wieder stehen und lachte laut. Er trug den stahlgrauen wadenlangen Lodenmantel, den die Further Polizei schon seit ewigen Zeiten nicht mehr ausgab. Kovacs selbst hatte ihn auch nicht mehr erhalten, als er vor vierzehn Jahren eingetreten war. Er ging den beiden ein paar Schritte entgegen. »Schnaps oder erfroren oder beides?«, fragte Töllmann. »Beides«, sagte Kovacs und trat zur Seite. Sabine Wieck übergab sich in dem Augenblick, als das Absperrungsband ihre Knie berührte. Töllmann stand einen Meter weiter weg und war vielleicht insgesamt eine Spur weniger empfindlich. Trotzdem hatte er eine ausgesprochen ungesunde Gesichtsfarbe. »Ein toter alter Mann, hat Lipp am Telefon gesagt«, stammelte er, »einfach das: ein toter alter Mann.«
»Wer macht so etwas?!«, würgte Sabine Wieck mitsamt der letzten Portion Magensaft hervor, »welche Teufel machen so etwas?!« Warum denkt sie nicht an einen Unfall?, fragte sich Kovacs. Und: Warum denkt sie die Teufel im Plural? Töllmann fragte nach der Spurensicherung und nach der Gerichtsmedizin, einen Strich zu laut, anscheinend vorwiegend, um irgendetwas zu reden, und Kovacs sagte, der Mann habe Wilfert geheißen, Sebastian Wilfert. Er habe immer schon hier auf dem Anwesen gewohnt, zuletzt in einem Nebengebäude, einem ehemaligen Pferdestall und Geräteschuppen, den er für sich und seine Frau als Ausgedinge umgebaut habe. Seine Frau sei vor gut einem Jahr gestorben. Das alles habe er von Lipp erfahren, der im Übrigen über den Mann nichts Auffälliges habe berichten können. »Einfach ein alter Mann«, habe Lipp erzählt, »ein alter Mann wie hundert andere auch. Trauert um seine Frau, schaufelt Schnee, sitzt vor dem Haus und freut sich, wenn er seine Enkelkinder sieht.«
Kovacs wies Töllmann an, an der Absperrzone auf Lipp zu warten und gemeinsam mit ihm alles zu fotografieren.
»Sie begleiten mich«, sagte er zu Sabine Wieck, »wir gehen ins Haus und schauen, was die Leute zu sagen haben.« Sie lächelte schwach.
»Machen Sie sich nichts draus. Für jeden kommt der Moment, an dem man über ein gelbes Band kotzt. Man erwartet ihn nicht, aber dann ist er plötzlich da.« Bei ihm war es vor knapp dreißig Jahren passiert: ein Kleintransporter, der auf der Tauernautobahn eine Profilleiste aus Aluminium verloren hatte, ein einzelnes, vergleichsweise winziges Ding, vielleicht drei, dreieinhalb Meter lang und fünf Kilo schwer. Die Leiste war mit dem einen Ende auf der Fahrbahn aufgeschlagen, so hatte man rekonstruiert, war hoch aufgestiegen und im Bogen zurückgekehrt, wie ein Speer. Sie war über zwei der nachfolgenden PKWs hinweggeflogen und hatte die Windschutzscheibe des dritten genau im Zentrum durchbohrt. Sie war zwischen der Frau und dem Mann, die vorne saßen, durch, ohne sie zu berühren. Das Paar hatte drei Kinder gehabt, elf, acht und vier Jahre alt. Die beiden älteren hatten das kleinste in die Mitte genommen. Es war ein weißer Mitsubishi Lancer gewesen, er konnte sich genau erinnern.
Er erzählte nichts. Sie tat ihm leid, wie sie da neben ihm herging, ganz gelb im Gesicht, die Uniform eine Spur zu groß. »Schauen Sie sich um«, sagte er, »machen Sie den Kopf frei und schauen Sie sich einfach um. Konzentrieren Sie sich auf gar nichts, dann werden Sie die wichtigen Dinge sehen.« Sabine Wieck hob den Kopf und schaute ihn erstaunt an. Er grinste. Es klang immer ein wenig nach Zen-Buddhismus, wenn er so
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