Die Süße Des Lebens
knallte ein Ball gegen die Tür oder ein Dreirad, aber das hatte ihn noch nie gestört.
In der Früh stand er in der Regel für eine Weile am Fenster: Der Blick über den Fluss und den Schilfgürtel hin zum Abflussbereich der Ache, dahinter der See und die Felswände. ›Darum bin ich hierher gezogen‹, dachte er, ›genau darum.‹ Er hängte die Jacke in den Schrank, stellte die Stiefel vor die Heizung und schlüpfte in seine Arbeitsschuhe. Die Kollegen hatten ein wenig gegrinst, als er zum ersten Mal mit den blauen Adidas Rekord gekommen war. »Es gibt sie wieder«, hatte er gesagt, »ich war damals sechzehn, und das ist die einzige Zeit im Leben, in der man die innere Sicherheit hat, etwas bewegen zu können.« Einige hatten zugestimmt, und Sellner, der Oberarzt von I 21, hatte erzählt, dass er seinerzeit zur Puma-Fraktion gehört habe, und wenn er recht überlege, sei es längst fällig, die Sache wieder aufleben zu lassen.
Zur Morgenbesprechung auf der Internen gab es Kaffee und Kekse. Das war sonst nie so. Außerdem kam Leithner, der Primarius, fünf Minuten zu spät. Das war sonst auch nie so. Er murmelte eine Entschuldigung, die niemanden interessierte, und pauschale Weihnachtswünsche. Dann stellte ihm Inge Broschek, seine Sekretärin, einen Teller mit Christstollen vor den Bauch. Einige lachten. Leithner aß üblicherweise im Stehen, und es gab jede Menge blöde Witze über die Mahlzeiten bei ihm zu Hause.
Cejpek hatte Oberarztdienst gehabt. Er berichtete über eine junge Frau, die mit wilden Herzrhythmusstörungen eingeliefert worden war und die Mannschaft den Nachmittag und die halbe Nacht über in Atem gehalten hatte. Dann hatte ihr Lebensgefährte zwei leere Packungen von einem alten Antidepressivum dahergebracht, und es war alles klar gewesen. So oder so wäre sie auf der Intensivstation gelandet. Horn nickte nur, als Cejpek und Leithner ihn vielsagend anschauten. Er würde sich mit der Frau beschäftigen, sobald sie so weit war. Darüber hinaus hatte es einen Diabetiker gegeben, der immer wieder in Hypoglykämien verfallen war, weil er die Insulintypen verwechselt hatte, eine sechzigjährige Frau mit einem frischen Hinterwandinfarkt und einen hundertdreißig Kilo schweren Mann mit einem Gichtanfall im rechten Großzehengrundgelenk, für den von Anfang an niemand auch nur die Spur von Mitleid gehabt hatte. Zwei Patienten waren verstorben, ein Mann, der schon längere Zeit im Lungenödem gelegen war, und eine siebenundneunzigjährige Frau. Die Menschen mit den grippalen Infekten hatte man mit Aspirin und guten Wünschen wieder nach Hause geschickt, und auf den Stationen hatte tatsächlich Weihnachtsruhe geherrscht.
Einige von Horns Patienten waren vorzeitig aus der Beurlaubung zurückgekehrt, unter anderem Caroline Weber. Sie hatte sich nach eineinhalb Monaten immer noch nicht vollends von ihrer Wochenbettpsychose erholt und war am Abend des fünfundzwanzigsten Dezember von ihrem Gatten ins Spital gebracht worden, weil sie wieder begonnen hatte zu glauben, ihre neugeborene Tochter sei der Teufel. Horn wusste bereits davon, denn man hatte ihn zu Hause angerufen und um eine Medikationsvorschreibung gebeten. Caroline Weber war achtundzwanzig Jahre alt, ihr Mann war ein geduldiger Baggerfahrer, und auf die Frage, wie viele Kinder sie insgesamt wollten, hatte er gesagt: »Na, schon noch ein paar.«
Sie bereitete ihm Sorgen. Ihre Mutter war vor einigen Jahren auf einen abgestellten Güterzugwaggon geklettert und hatte beide Arme über das Kabel der Oberleitung gelegt. Danach hatte man in der Wohnung mehrere Zettel gefunden, auf denen die Frau endlos lange Bußgebete notiert hatte. Ihr Mann, Carolines Vater, war wenig später zu einer pummeligen weißblonden Frau gezogen. Caroline sprach kaum jemals über ihn. Einmal sagte sie: »Es ist wurscht, ob man über meinen Vater etwas weiß oder nicht.« Mutter tot, Vater gewissermaßen auch tot, das Kind der Teufel – da gab es gnädigere Schicksale.
Horn ertappte sich dabei, wie er sich sich selbst mit einem kleinen krähenden Mädchen auf dem Arm vorstellte und Michael und Gabriele dazu als strahlende Eltern. Irene würde sich im Hintergrund halten und etwas von den Männern murmeln, die sich in Wahrheit immer eher ein Mädchen wünschen. Alle wären ziemlich entspannt. Ein neues Element, dachte er, führe ein neues Element ein, und die Dinge verändern sich. Außerdem fragte er sich, ob er mit achtundvierzig fürs Großvaterwerden nicht ein wenig zu jung
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