Die Süße Des Lebens
sich ihm unter die Hose. Er trug lange Socken und hatte die Stiefel fest geschnürt, daher machte es ihm nichts. An der Stelle, an der die Straße nach Westen schwenkte und über einem Kiefernwäldchen die Türme der Stiftskirche auftauchten, dachte er seit zehn Jahren immer das Gleiche: Warum bin ich hierher gezogen? Natürlich hatte er inzwischen hundert verschiedene Antworten gefunden: Irene, die es so gewollt hatte, weil sie zweimal bei den Symphonikern abgeblitzt war, oder die Kinder, für die man sich bessere Entwicklungsmöglichkeiten ausmalte, oder die Luft, die Berge, die fixe Idee, die Landbevölkerung sei weniger psychopathisch, oder natürlich die Sache mit Frege – wirklich zufrieden stellte ihn das alles nicht. Die übliche Flucht aus der Großstadt? Der Hang zur Idylle? Das breitere Spektrum im Beruf? Egal. Er formte einen Schneeball und warf ihn in die Baumkronen.
Er nahm die Abkürzung über jene weite, sanft gegen Süden geneigte Fläche, die im Sommer ein Mais- oder Rübenfeld war, und erreichte die Bundesstraße nahe der Abzweigung zur biologischen Beobachtungsstation. Ihm war warm. Er schlüpfte aus den Handschuhen und steckte sie beidseits in die Jackentaschen. Nach dem Ortsschild begann der Gehsteig. Horn stampfte ein paarmal kräftig auf, sodass der ärgste Schnee von seinen Hosenbeinen fiel. Der Eintritt in die zivilisierte Welt, dachte er.
Die Pappelallee, die in spitzem Winkel abzweigte, wurde nach ein paar hundert Metern zur Siedlungsstraße. Ein Satteldachhaus aus den siebziger Jahren neben dem anderen. In den Vorgärten standen erleuchtete Weihnachtsbäume. Da und dort rauchte ein Schornstein. Er stellte sich vor, wie drinnen die Leute aus den Badezimmern kamen und an halbleeren Kekstellern vorbeigingen.
Irene saß vermutlich mit dem Cello und probierte ihren neuen Bogen aus, Tobias schlief und Michael war mit seiner Freundin am Vortag gleich wieder abgereist. Er geriet mit seiner Mutter nach wie vor in Konflikt, sobald er sie sah, und auch Irene gelang es nicht, aus dem alten Schema auszusteigen. Immerhin hatte er die Geschenke mitgenommen. Ein dunkelgrauer Wollpullover von Timberland und das neue Album von Nick Cave; der Rest fiel Horn nicht ein. Gabriele, Michaels Freundin, war nett. Dunkles, borstiges Kurzhaar, ein wenig grobknochig, ruhig, keine sichtliche Konkurrenz für Irene. Sie hatte ihm ein Moleskine-Notizbuch geschenkt. Er trug es bei sich und war immer noch überrascht, wie sehr sie damit den Punkt getroffen hatte.
Die Gaiswinklerstraße nach rechts, bis zum Fluss. Der Blick auf die langgezogene Schotterbank am anderen Ufer, auf die groben Felsblöcke des Dammes und auf die Hausfassaden darüber. Ein Stück flussabwärts, knapp vor der Straßenbrücke, war an der Böschung das Pegelmaß zu sehen. Das letzte Hochwasser hatte es vor zweieinhalb Jahren gegeben, damals im August, als in Niederösterreich der Kamp aus den Ufern getreten war und ein Stück nordöstlich die Enns die ganze Stadt Steyr unter Wasser gesetzt hatte. Hier hatten lediglich einige Kühltruhen dran glauben müssen, und die Computeranlage einer Handelsfirma, die man dummerweise im Kellergeschoss installiert hatte. Sonst war nichts passiert. Das Krankenhaus lag auf einem Hügel, dreißig Meter oberhalb des Wasserspiegels, absolut sicher, so hieß es.
Horn überquerte den Parkplatz und nahm wie immer den Nebeneingang. Wenn ihn jemand fragte, warum er das tat, sagte er: »Ich ertrage am Morgen den Anblick des Portiers nicht«, aber in Wahrheit stand vermutlich irgendein blöder Zwang dahinter.
Hinter den Türen des Zentrallabors surrten die Zentrifugen, dann lachten mehrere Leute gleichzeitig. Eine der Deckenleuchten am Gang flackerte nervös. Er stieg die Treppe in den zweiten Stock hinauf. Vor dem Eingang zur Kinderabteilung traf er Elfriede, die unterwegs zur Stationsschwesternbesprechung war. Sie sah rund und rotwangig aus wie immer und stolperte über die Worte, als sie ihm im Nachhinein frohe Weihnachten wünschte. »Der Nebel legt sich über die Stadt«, sagte er, »das heißt, der See wird auch in den nächsten Tagen nicht zufrieren.« Sie rief ihm über die Schulter etwas von ›eislaufen‹ zu, dann war sie weg.
Horn hatte sein Dienstzimmer im hintersten Winkel von K 1, der allgemeinen Pädiatrischen Station. Das bedeutete, dass es im Allgemeinen sehr ruhig war, lediglich zur Besuchszeit hörte er auf dem Gang die aufgeregten Mütter oder quengeligen Geschwister der Patienten. Ab und zu
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