Die Tänzerin auf den Straßen
Regelmäßigkeit... Ich hatte sie gerade verlassen. Ich sehnte mich nach Johannes, unserem Sonntagsritual und dem gemeinsamen Frühstück.
Keine Vergangenheit, keine Zukunft! Es zählt nur der Augenblick.
Schritt... Schritt... Gehen... Gehen...
Langsam begann ich, meinen Rhythmus zu genießen. Ich bemerkte, dass er sehr mit dem Herzrhythmus verbunden war und mit einer gewissen Sehnsucht, die ich noch nicht in Worte fassen konnte. Sie trieb mich vorwärts, obwohl ein Teil in mir noch immer nach Hause wollte, auch noch am fünften Tag. Dieser Teil wünschte sich Luxus, ein warmes Bad, ein gutes Essen, ein schönes Kleid, einen Duft, vertraute Menschen... Letztere erschienen mir in der Fremde als der größte Schatz.
M eine einsamen Flügel
kehren den Staub von den Gassen.
Sie scheinen verlebt und können es nicht lassen,
sich zu sehnen
nach der Langenweile,
die am Sonntagmorgen gähnt
aus allen Kaffeetassen
und von den Tischen, weiß gedeckt.
Leere Liebe, im Kuchen versteckt...
Ein Wort folgt dem anderen,
lächelnd verlogen,
im Schweigen der Kaffee trinkenden Münder verzogen.
Meine Flügel
kehren den Staub von den Gassen,
einsam, verlebt und verlassen.
Ich stolpere über ein Rinnsal,
das fließt von den sicheren Tischen,
verklebt mir die Flügel,
die Freiheit riefen
am Mittag, ein letztes Mal.
M ein Herz kennt das Schaukeln der Füße,
ihren wiegenden Gang...
Nach Hunderten von Kilometern
in immer demselben Schritt
summt und singt es den Rhythmus
der geheimen Sehnsucht mit.
Das Zeichen, gemeißelt
wie eine Skulptur, imaginär –
die Muschel, die Muschel
auf zum Meer, zum Meer.
Leon, wach auf, es ist Morgen. Ich spüre, wie der Morgennebel mit feinen Tröpfchen meine Augen netzt. Altweibersommer. Feine Fäden verweben sich in den Bäumen. Einmal hast du zu mir gesagt: „Atme! Ich will dich atmen hören! Ich will dich einatmen.“
Ja, ich will atmen, diesen Sommertag und das volle Leben. Auf. Richtung Westen! Zum Meer, ans Ende der Welt.
Weitergehen und atmen
Alte Römerstraßen — welche Geschichte unter meinen Füßen! Letzte Nacht träumte ich, dass ich mit anderen Templern in einer Zitadelle eingesperrt war, wo wir uns verteidigen mussten.
Wieder holte mich die Angst ein: Alles würde sich ändern. Ich fühlte, wie sehr der Camino mit mir sprach, und ahnte die eigene Veränderung. Am meisten fürchtete ich mich vor der Wahrheit meiner Beziehung. Ich bemerkte, dass ich schwer loslassen konnte.
Gedanken über Gedanken stiegen aus meinem Körper in den Kopf, kamen und flogen wie Wolken davon. Wie viel Zeit man hat auf dem Camino, um zu grübeln!
Dann fühlte ich mich plötzlich wie in der Armee, so wie mir die alten Männer immer erzählten. Keine Vergangenheit mehr, weil zu Hause sich alles aufgelöst hat in den Kriegswirren und man seine Heimat nicht wiederfindet. Und erst recht keine Zukunft. Ich kann sie jetzt verstehen... Oder die Frauen, die auf der Flucht waren mit Kindern.
Ich bin freiwillig gegangen! Doch gerade hier spürte ich, dass es keine Vergangenheit gab und keine Zukunft, immer nur den Augenblick und den Schritt, den ich gerade tat. Nichts bewerten — atmen und weitergehen! Weitergehen und atmen schon beim nächsten Schritt verändert sich alles...
Wenige Stunden später traf ich auf den jungen Mann mit dem schweren Rucksack und dem gebrochenen Blick. Wir füllten Wasser ab an einer Quelle. Unsere Augen begegneten sich. Schweigen. Es war meine erste Begegnung mit einem Pilger, die etwas Intimes hatte.
Zögernd kam die Frage über meine Lippen, welche Last er da schleppe.
Langes Schweigen. Keine Antwort. Mein Magen verkrampfte sich. Ich stand auf und ging. Da begann er zu sprechen:
Er hatte in der englischen Armee gedient und musste in den Irakkrieg. Er fühlte sich als Held, und das war ein geiles Gefühl. Eines Tages bekamen sie den Befehl, auf ein Haus zu schießen, in dem Terroristen wären. Als sie das Haus nach der Beschießung stürmten, sahen sie Frauen, Kinder, Alte und andere Zivilisten. Als er das Blutbad sah und die vielen Toten, bekam er einen Schock und desertierte noch in derselben Nacht. Drei Monate hat er gebraucht, um unbemerkt durch das Land zu kommen. Es zog ihn zum Jakobsweg, seine Schuld wegzugehen, sein Leid, seinen Schmerz. Er hat Steine in seinen Rucksack gepackt, deren Gewicht ihm zu schaffen macht, ihm Schmerz bereitet, ihn zu Boden drückt... Er schreibt und schreibt, will keinen Kontakt. Später will er sich freiwillig
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