Die Tänzerin auf den Straßen
mit einem Menschen geschehen, der einem vierjährigen jüdischem Mädchen die Augen aussticht, weil sie wie Diamanten leuchten, und sie seiner Frau zum Geburtstag schenkt? Und was ist mit einer Frau passiert, die solch ein Geschenk annimmt und sich freut, statt laut vor Schmerz zu schreien, denn auch sie hat Kinder geboren? Wie kann man damit leben? Und wie damit sterben? Leon, ich habe nur noch geweint in der Gedenkstätte, geweint um die Menschen, denen das geschehen ist, und geweint um die, die es getan haben. Mich erfasste ein Weltschmerz, der unaussprechlich war... Ich habe mich auch gefragt, warum wir alle, alle die Leute aus Hunderten von Ländern dieser Erde, nicht in diesem Augenblick in der Gedenkstätte uns stumm an die Hände genommen haben?
Wie, Leon, sollen wir als Menschheit weiterleben, im ewigen Kreislauf aus Täter- und Opferschaft, ohne uns endlich zu vergeben, uns selbst und den anderen, und endlich miteinander zu weinen? Wie soll dieser Kreislauf sonst unterbrochen werden?
Deine Wunden sind auch meine Wunden, und Mikes sind deine und meine.
Leise sind die Schatten
Deiner Liebe,
die du mir ins Haar geflochten,
noch ehe der Hahn dreimal krähte am Morgen,
nach der Nacht,
in der dein Herz
mit seinen salzigen Tränen
meinen Leib begossen,
wie ein Gärtner seine Blumen.
Heute kam eine Kindheitserinnerung:
Im Kuhstall nisteten jedes Jahr die Schwalben. Im Frühling kehrten sie zurück, und wir Kinder warteten regelmäßig im April auf ihre Rückkehr. Jeder wollte die erste Schwalbe sehen, weil das Glück bringt. In jenem Jahr sah meine Mutter die erste Schwalbe. Wenige Wochen später nisteten sechs Schwalben im Stall, und wir Kinder beobachteten, wie sie ihre Arbeit machten und flogen und Insekten jagten und morgens und abends sangen, als ob sie immer gute Laune hätten, trotz der Arbeit. Eines Tages kamen mein Spielfreund und ich auf die Idee, in die Nester sehen zu wollen. Wir warteten, bis die Erwachsenen auf den Feldern waren, und versuchten, Leitern zum Hochklettern zu holen. Das gelang uns nicht, die waren zu schwer. Wir waren fünjjährige Knirpse. Ich spüre noch jetzt das Gefühl der Gier, es trotzdem und nun gerade wissen zu wollen, was da oben in den Nestern passierte. Wir holten die Wäschestangen und schlugen, eine Stange zu zweit haltend, gegen die Nester. Die Abwehr der Schwalbeneltern bemerkten wir nicht. Wir glühten vor Eifer, wir wollten es wissen. Alle Nester rissen wir von den Wänden. Endlich lagen sie uns zu Füßen und wir sahen die Jungvögel, wie sie erschreckt piepsten, mit den Flügelchen schlugen und hilflos herumhüpfien. Die Altvögel flogen um ihre zerstörten Nester... Und wir beide liefen, plötzlich von Panik erfasst, davon.
Wir versteckten uns in einer Ecke des Hofes, hinter den Holzfeimen, zitternd wie die jungen Vögelchen. Mir war schlecht. Ich wollte nie mehr das Versteck verlassen. Ich wusste, es würde Arger geben. Aber noch schlimmer war, was wir angerichtet hatten. Wir waren fassungslos und wollten sterben. Wir müssen irgendwann eingeschlafen sein, weil Stimmen und der Schein einer Taschenlampe uns weckten. Es war mein Vater. Er nahm uns mit in den Stall, wir sahen noch einmal die Zerstörung und heulten los. Wenn mein Vater mich doch jetzt wenigstens geprügelt hätte! Ich war am Boden zerstört. Wir hatten das Glück zerstört.
Das Glück für Haus und Hof. Dann sagte mein Vater, dass er mit den Schwalben gesprochen hätte. Und wir sollten es auch tun. Wir sollten ihnen sagen, wie leid es uns tut, und fragen, wie wir es gut machen könnten. Die Altschwalben saßen auf den Gitterstäben der Fressgatter. Wir redeten mit ihnen. Sie antworteten uns. Mein Vater verstand die Antwort sehr deutlich.
Am nächsten Morgen begannen wir zwei Zerstörer, Eidechsenhäuser hinten im Garten zu bauen, weil die Eidechsen die besten Freunde der Schwalben sind und im Garten zu wenige Steine zum Wärmen für die Eidechsen waren. Wir schleppten Steine und hörten drei Tage nicht auf, Häuser für die Eidechsen zu bauen. Die zogen auch ein, und die Schwalben kehrten im nächsten fahr zurück. Es hatte also funktioniert.
Leon, meine Kinderseele hätte mit der Schuld nicht weiterleben können. Die gute Idee meines Vaters hat uns gerettet vor Scham und Schande und vor den Abwehrmechanismen, die uns sicher am meisten selbst geschadet hätten. Kein Mensch kann ewig mit Schuld leben.
Am Weg liegt der Ort Obanos. Dort erstach im Mittelalter ein Bruder seine
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