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Die Tänzerin auf den Straßen

Die Tänzerin auf den Straßen

Titel: Die Tänzerin auf den Straßen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Miriam Gudrun Sieber
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stellen und sich verhaften lassen. Bis zu zwei Jahren Gefängnis stehen auf Desertion.
    Er war so jung, einundzwanzig Jahre alt. Ich weinte mit ihm. Dann schickte er mich fort: „Hau ab“, schrie er mich an. Ich ging, stumm und erschreckt.
    Ich war verwirrt, aufgewühlt und wütend auf Regierungen, Systeme und Befehlshaber, die so junge Menschen missbrauchen. Er war doch so jung und seine Augen waren unschuldig, seine Hände noch die eines Kindes. Und doch, er war schon ein Mörder. Er weinte die Tränen eines Mörders! Nachts erschienen seine Opfer und machten ihn schlaflos.
    Mir graute vor den Verstrickungen der Welt.
    Niemand konnte Mike trösten oder ihm seinen Rucksack tragen. Kein Mensch konnte dem anderen etwas abnehmen. Ich hatte tiefes Mitgefühl in mir, ja sogar eine Art Liebe. So war es also mit der Liebe!? Wenn wir unsere Abgründe einander erzählen, bleibt da nicht bloß das große Verstehen übrig... Ach, wie gern hätte ich ihm gesagt: Mike, das Leben wird dir vergeben! Doch er hätte das nicht annehmen können, noch nicht.
    Mein Gefühl der Liebe für Mike erschien mir wie eine Metapher. Wenn ich kleiner Mensch so viel Liebe fühlen konnte, wie groß musste da erst das Verstehen und die Liebe des Lebens sein!
    Gibt es Schuld? Wer spricht uns schuldig oder was? Das eigene Gewissen, die Moral? Ist unser Gewissen Moral und Erziehung oder die Stimme unseres Herzens?
    Jeder von uns hat sein Schicksal, das gut oder schlecht verpackt mit ihm läuft. Dieses Schicksal steht hinter uns wie ein Schatten, wenn wir lieben und Beziehungen eingehen.
    Zeige deine Wunden, damit ich dich verstehe, du Mensch an meiner Seite. Ich will dir meine Wunden zeigen...

     

Lieber Leon,
    heute bin ich dem Krieg begegnet. Ich sah ihn in den Augen eines jungen Mannes, einundzwanzig Jahre alt.
    Ich weiß, dass du nachts nicht schlafen kannst. Auch dich quält der Krieg, die Erinnerungen aus dem Schützengraben: tagelanges Aushalten. Neben dir die Leichenteile der von Granaten zerstückelten Kameraden. Hunger, Durst, Kälte, Angst. Morgen oder schon gleich kannst auch du zerrissen werden. Ihr scheißt und pisst auf die Toten, schlaft in der Kloake und auf Leichenteilen... Den Schützengraben verlassen bedeutet sofort den eigenen Tod. Manche drehen durch, rennen aus dem Versteck. Es gibt kein Klopapier, das macht den Arsch wund.
    Du weinst jede Nacht, rufst nach deiner Mutter, die schon lange tot ist. Dabei seid ihr als Helden und Kämpfer für das Vaterland ausgezogen... Auch heute weinst du noch in den schlaflosen Nächten. Doch keiner aus deiner Familie weiß davon. Für sie bist du der starke Mann und Vater, und du hältst das Bild aufrecht. Nur in deinen Krankheiten, deinen Depressionen, gestattest du dir, schwach zu sein.
    Als wir uns kennenlernten, hast du mir das alles erzählt, bereits am ersten Abend, so als hättest du gewartet, dass jemand mal zuhört. Später hast du dich gewundert, mir davon erzählt zu haben. Um uns herum war die Party, doch wir sahen keinen Menschen... Du erzähltest die ganze Nacht. Und ich begann dich zu lieben für deine Ehrlichkeit.
    Hier in Spanien geht jetzt der Mond auf in voller Schönheit und tiefem Frieden. Er ging auch damals auf über den Schützengräben deines Krieges — und über Bagdad in jener Nacht, als Mike die Frauen und Kinder erschoss...
    Auch darüber hast du erzählt, wie Trost spendend der Mond war oder die Wärme der Sonne. Wie oft habt ihr Soldaten mit Mutter Erde geredet, sie gebeten, sie möge eine Kleinigkeit zu essen wachsen lassen oder einen Strauch, Busch oder Baum für Schatten, Regenschutz oder um sich zu verstecken. Und dann all die Herausforderungen durch die Elemente — Stürme, Kälte, Hitze, Regen, Nebel... Auf diesem Weg ahne ich etwas von deinen Kämpfen damals... Du sagtest: „Mutter Erde.“
    Gute Nacht, Leon. Wie tief eingeschnitten in unseren Häuten sind all die Wunden der Zeiten... Wie tief eingeschnitten sind die Gefühle von Schuld, Täterschaft und Opfersein... wie tief der Schatten, der die Menschheit verfolgt, und die Dämonen, die abgespalteten Teile unseres Lebens.
    Als ich in Israel in Yad Vashem war, der Gedenkstätte des Holocaust, wo alles Filmmaterial jener Zeit gesammelt ist, erfasste mich das erste Mal ein riesengroßes Mitgefühl für Opfer und Täter. Was ist mit einem Menschen geschehen, der die Hoden eines kleinen geistig behinderten Jungen von fünf Jahren bei lebendigem Leibe abschneidet und nichts dabei fühlt? Was? Was ist

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