Die Tänzerin im Schnee - Roman
unsäglich kratzigen Kostümröcke getragen, die sich anfühlten wie aus Polsterbezügen geschneidert. 1978 hatte sie sich dann einem sogenannten »Mini-Lifting« unterzogen. Nur ein paar Stiche hinter den Ohren – derart läppisch, dass sie an dem Tag, als die Fäden gezogen werden sollten, beschloss, die Sache einfach selbst zu erledigen. Und das hatte sie dann auch getan, mit einem Vergrößerungsspiegel und einer winzigen, spitzen Nagelschere.
Mit einer kleinen, flinken Bewegung strich das Mädchen ihren Rock glatt und befreite ihn dabei von unsichtbaren Fusseln. »Petersburger Attitüden« pflegte Ninas Großmutter sie zu nennen, diese kleinen Zurechtrückungen, die Frauen nur allzu häufig vornahmen. Nun griff sie in ihre Tasche und förderte eine Klemmbrettmappe mit Lederdeckel zutage. Breite Wangenknochen, zarte Haut, braune Augen, grün gesprenkelt. Irgendetwas an ihr kam Nina bekannt vor, wenngleich sie es mit nichts Gutem in Verbindung brachte. »Ich bin gekommen, um eine Liste mit den Eckdaten zu erstellen. Danach sind dann erst mal unsere Sachverständigen dran.«
Nina nickte, und der Knoten im Nackenansatz zog sich zusammen: Manchmal schien dieser Knoten die Wurzel all ihrer Leiden zu sein. »Ja, natürlich«, sagte sie, wobei der Schmerz durch die Anstrengung kurzzeitig noch stärker wurde.
Das Mädchen schlug die Mappe auf und sagte: »Es gibt so vieles, was ich Sie gern fragen würde – doch ich will versuchen, beim Geschäftlichen zu bleiben. Ich liebe das Ballett. Ich wünschte, ich hätte Sie tanzen gesehen.«
»Sie brauchen mir nicht zu schmeicheln.«
Ihr Gegenüber zog eine Augenbraue hoch. »Ich habe über Sie gelesen, dass Sie ›der Schmetterling‹ genannt wurden.«
»Eine Moskauer Zeitung nannte mich so«, hörte Nina sich blaffen. »Ich mag die Bezeichnung nicht.« Sie fand das Bild nicht gerade zutreffend; es ließ sie schwach und flatterig wirken, wie ein Rosenblatt, das durch die Luft gewirbelt wird. »Sie ist zu … süßlich.«
Das Mädchen nickte verständnisvoll, und Nina war überrascht, dass ihr ihre ablehnende Haltung nichts auszumachen schien. »Bei einigen ihrer Schmuckstücke habe ich das Schmetterlingsmotiv wiederentdeckt«, sagte das Mädchen. »Ich habe mir die Liste von der St.-Botolph-Ausstellung angesehen. Ich dachte, das könnte uns die Arbeit heute erleichtern. Wir gehen einfach die St.-Botolph-Liste durch« – sie deutete auf die Blätter, die in der Mappe klemmten –, »und Sie sagen mir, welche Stücke Sie versteigern lassen und welche Sie gegebenenfalls behalten möchten.«
»Einverstanden.« Der Knoten in ihrem Nacken schmerzte. Inzwischen verspürte sie fast so etwas wie Zuneigung zu dieser quälenden Verhärtung, die anfangs nur eine neue Quelle unablässiger Schmerzen gewesen war. Doch eines Tages, es lag gerade erst ein paar Monate zurück, hatte sich Nina zufällig daran erinnert, wie ihre Großmutter ihr im Winter immer den Schal umgebunden hatte, damals in Moskau, als sie noch zu klein gewesen war, um es selbst zu tun: hinten am Hals zugeknotet, um rasch zupacken zu können, falls Nina versuchen sollte davonzulaufen. Die über fünfzig Jahre verschüttete Erinnerung war tröstlich, wie Balsam, ein Geschenk, das sie vor langer Zeit verloren und endlich wiedergefunden hatte. Seitdem sagte sich Nina, wenn ihr der Nacken schmerzte, dass es der Knoten in ihrem alten Wollschal sei und dass ihre Großmutter ihn dort hineingemacht habe, und der Schmerz wurde, wenngleich er nicht nachließ, so wenigstens zu einem guten Schmerz.
Schon reichte ihr das Mädchen das Klemmbrett. Mit zitternden Händen griff Nina danach, während das Mädchen im Plauderton sagte: »Ich bin selbst zu einem Viertel Russin.« Als Nina nicht reagierte, fügte sie hinzu: »Mein Großvater stammt von dort.«
Nina beschloss, nicht darauf einzugehen. Ihr Leben in Russland lag so weit zurück, und der Mensch, der sie heute war, hatte nichts mehr mit dem von damals gemein. Sie ließ das Klemmbrett in den Schoß sinken und betrachtete es stirnrunzelnd.
In vertraulicherem Ton fragte das Mädchen: »Wie kamen Sie zu dem Entschluss, Ihren Schmuck versteigern zu lassen?«
Nina hoffte, dass ihre Stimme nicht zitterte. »Ich möchte selbst entscheiden, zu Lebzeiten, wem der Erlös zufließt. Ich bin ja fastachtzig. Wie ich Ihnen bereits sagte, soll alles an die Boston Ballet Foundation gehen.« Sie hielt den Blick gesenkt, starr auf das Klemmbrett gerichtet, und fragte sich, ob sich ihre
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