Die Tänzerin im Schnee - Roman
Emotionen hinter ihrer Steifheit verbergen ließen. Auf einmal kam ihr alles so falsch vor, so überstürzt. Das Falsche hatte irgendwie mit diesem Mädchen zu tun, damit, dass
sie
diejenige sein sollte, die Ninas Schätze sichtete. Mit diesen überkorrekten, selbstsicheren Händen.
»Tja, diese Stücke werden mit Sicherheit eine stattliche Summe einbringen«, sagte das Mädchen. »Vor allem, wenn Sie uns gestatten bekanntzugeben, dass sie aus Ihrer Sammlung stammen.« Sie sah sie erwartungsvoll an. »Natürlich laufen unsere Auktionen in der Regel anonym ab, doch in so prominenten Fällen wie Ihrem macht es sich häufig bezahlt, den Namen des Besitzers zu veröffentlichen. Soweit ich weiß, hat Lenore das Ihnen gegenüber bereits erwähnt. Selbst die weniger wertvollen Stücke könnten so einen guten Preis erzielen. Nicht, dass wir auch Andenken mit aufnehmen müssten, aber …«
»Sie können sie haben.«
Das Mädchen taxierte Nina. Sie schien etwas bemerkt zu haben, und Nina spürte, wie ihr Puls zu jagen begann. Doch das Mädchen richtete sich lediglich ein wenig gerader auf und sagte: »Die Tatsache, dass die Stücke Ihnen gehören, wird die Zahl der potentiellen Bieter nach oben treiben. Und dann ist da natürlich noch der zusätzliche Reiz, dass einige Objekte aus der Sowjetunion geschmuggelt wurden. Unter Einsatz Ihres Lebens.«
An dieser Stelle begann, wie immer, jener Teil der Unterhaltung, in dem aus Nina die tapfere alte Frau gemacht wurde, die – der künstlerischen Freiheit wegen – vor der Unterdrückung geflohen war und dem Regime die Stirn geboten hatte. Es lief immer gleich ab: Aus der Künstlerin wurde stets eine Ikone.
»Als Sie geflohen sind, meine ich.«
Diese ausdrucksstarken braunen Augen. Abermals atmete Nina einen Hauch Vergangenheit, die Erinnerung an … was? Irgendetwas Unschönes. Eine leise Verärgerung stieg in ihr auf. »Die Leute denken, dass ich aus Russland geflohen bin, um dem Kommunismus zu entkommen. In Wahrheit jedoch bin ich vor meiner Schwiegermutter geflohen.«
Das Mädchen schien zu glauben, dass Nina scherzte. Wieder zeigten sich die Fältchen neben ihren Augen, als sich ihr Mund zu einem verschwörerischen Lächeln verzog. Dunkle Wimpern, breite Wangenknochen, klug geschwungene Augenbrauen … Auf einmal sah Nina sie ganz klar vor sich: ihr strahlendes Gesicht und das Flattern ihrer Arme, das zarte Muskelspiel, während sie über die Bühne schwebte.
»Ist … ist alles in Ordnung?«
Nina zuckte zusammen. Das Mädchen von Beller sah sie aufmerksam an. Nina atmete tief durch, um sich zu sammeln, und sagte dann: »Sie erinnern mich an eine alte Freundin. Jemanden, den ich vor langer, langer Zeit kannte.«
Das Mädchen schien erfreut, als könnte ein Vergleich mit der Vergangenheit per se nur schmeichelhaft sein. Sie handelte schließlich mit Antiquitäten. Kurz darauf ging sie die St.-Botolph-Liste derart zügig und professionell durch, dass Nina für neuerliche Gefühlswallungen oder gar Reue keine Gelegenheit mehr blieb. Dennoch schien eine Ewigkeit zu vergehen, bis das Mädchen schließlich wieder in ihren Mantel schlüpfte und, ihre Bestandsliste fest in die Mappe geklemmt, selbstbewusst die Treppe hinunterstapfte.
Ein warmer Morgen in Moskau Anfang Juni, kurz vor Ende des Schuljahres. »Kannst du nicht stillsitzen?« Mit einem Ruck wird Ninas Kopf zurückgerissen, kratzend ziehen die Zinken eines Kamms einen Scheitel. Es ist eine rein rhetorische Frage. Nina konnte kaum laufen, da rannte sie schon. Sie wird nicht müde, die Stufen in dem dunklen Treppenhaus ihres Hauses auf und ab zu hüpfen, und kann mit wenigen Sprüngen den ganzen Hof durchqueren. »Hör auf zu zappeln.« Doch Nina lässt die Beine baumeln und schlägt die Fersen aneinander, während Mutters Finger mit der Entschlossenheit und Präzision eines Chirurgen ihre eigene Hoffnung, ihre eigenen Träume zu zwei strammen Zöpfen flechten. Nina kann Mutters Hoffnung regelrecht spüren, das leichte Zittern ihrer Hände und ihren raschen Herzschlag unter dem dünnen Stoff der Bluse. Der heutige Tag ist entschieden zu wichtig, als dass sich Ninas Großmutter mit ihren schlechten Augen und dem schlampig geknoteten Kopftuch an ihreHaare heranwagen dürfte. Endlich sind die Zöpfe fertig geflochten, zu einem Haarkranz gewickelt und mit einer großen neuen Schleife fixiert, damit die Hoffnungen und Träume auch schön festsitzen. Nina tut die Kopfhaut weh.
Auch Vera hat neue Bänder im Haar, stellt
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