Die Tänzerin im Schnee - Roman
Nina fest, als sich die beiden im Hof treffen. Kräftige Windböen lassen sie hin und her flattern und rütteln die Prunkwinde an den durchhängenden Balkonen durch. Innerhalb weniger Tage ist das Wetter umgeschlagen, und statt regnerisch-kalt ist es nun derart heiß und trocken, dass Nina sich Sorgen macht, der Staub könne das Baumwollkleid ruinieren, das Mutter ihr genäht hat. Veras Großmutter, deren dunkle Augen finster unter einem weißen Kopftuch hervorblicken, runzelt fortwährend die Stirn und passt auf, dass Vera ihr nicht von der Seite weicht. Wie alle Großmütter ist sie dauernd missmutig, nennt die Gorki-Straße »Twerskaja-Straße« und nörgelt lautstark an Dingen herum, über die sich andere nicht einmal im Flüsterton zu beklagen wagen. Ihre Gesichtshaut ist von dünnen Linien durchzogen, wie eine zersprungene Eisschicht.
»Wir waren gestern Abend ganz lange auf«, lässt Vera Nina wissen. Aus der Art, wie sie es sagt, schließt Nina, dass sie nicht fragen soll, warum.
»Wie lange?« Wie Vera ist auch Nina neun Jahre alt und wird jeden Abend viel zu früh ins Bett gesteckt. Doch Vera schüttelt nur den Kopf, eine derart minimale Geste, dass ihre kastanienbraunen Zöpfe dabei kaum ins Schwingen geraten. Auf einem der Balkone lehnt sich eine Frau, die in der gleichen Wohnung lebt wie Vera, über das Geländer und schüttelt Bettzeug aus. Veras Großmutter wirft einen kurzen Blick nach oben und sagt dabei etwas zu Ninas Mutter, so leise, dass es wie eine andere Sprache klingt.
Sie macht sich Sorgen, dass irgendetwas diesen Tag verderben könnte – und das nach all der Zeit des Wartens, seit Mutter das erste Mal von der Ballettschule erzählt hat. Die undeutliche, traumähnliche Beschreibung hätte geradewegs aus einem Märchen stammen können: ein Ort, an dem kleine Mädchen ihre Haare zu strengen Knoten hochstecken und nicht nur Fächer wie Lesen, Erdkunde und Geschichte haben, sondern lernen, sich zu bewegen, lernen, zu
tanzen
.Früher hätten Mädchen wie Nina nicht einmal an einem Vortanzen teilnehmen dürfen. Heute jedoch kann sich – dank Onkel Stalin – jedes Kind, wenn es alt genug ist, zur Aufnahmeprüfung anmelden.
Doch nicht jeder wird an der Schule aufgenommen, hat Mutter gesagt. Sie hat in der Klinik, in der sie als Sekretärin arbeitet, extra um Erlaubnis gebeten, den heutigen Morgen freizubekommen. Als sie sich schließlich zu Nina und Vera umdreht – »Also gut, Kinder, wir müssen los« – ist Nina erleichtert. Veras Mutter hätte eigentlich auch fragen sollen, ob sie freibekommt, doch schon geht es ohne sie los, hinter Mutter her durch das Hoftor hinaus in die Gasse. Eine dürre Katze huscht vor ihnen davon, als Veras Großmutter ihnen hinterherruft: »Ich weiß, dass ihr die Besten seid!« Ihre Stimme verfängt sich in den Eisenstreben, als das Tor scheppernd ins Schloss fällt.
Die heiße, windige Gasse. Die breiten, staubbedeckten Straßen. Mit jedem Windstoß wirbeln mehr graue Pappelflusen durch die Luft, und Nina und Vera haben alle Hände voll zu tun, sie von ihren Köpfen und Kleidern zu zupfen, während Ninas Mutter strammen Schrittes vorneweg läuft.
»Mir ist kalt«, klagt Vera trotz der Sonne und des warmen Windes. »Mir geht’s nicht gut.« Mutter drosselt das Tempo und streckt eine Hand aus, um Veras Stirn zu befühlen. Obwohl sie besorgt zu sein scheint, sagt sie seufzend: »Das ist nur die Nervosität, mein Spatz«, und drückt Vera an sich.
Nina wünscht sich, Mutter würde ihren Arm um
sie
legen, wo er hingehört. Doch da stehen sie schon an der Ecke Puschetschnaja/ Neglinaja-Straße vor einem vierstöckigen Gebäude, über dessen Eingang ein Schild hängt:
MOSKAUER FACHSCHULE
FÜR CHOREOGRAPHIE
DES BOLSCHOI-THEATERS
Ninas Vater hat am Bolschoi-Theater gearbeitet, bevor er starb. Er war Kulissenmaler. Jedes Mal, wenn Mutter davon erzählt, schwingt Stolz in ihrer Stimme mit, als ob sie selbst gern am Theater arbeiten würde statt an einem Schreibtisch in der Poliklinik. Doch weder Nina nochVera sind je im Bolschoi-Theater gewesen. Ein Ballett hat Nina dieses Jahr zum ersten Mal gesehen, in einem Pavillon im Gorki-Park. Auch das war Mutters Idee. Schließlich springt und wirbelt Nina den ganzen Tag herum, übt Handstand und Radschlagen … Und dann hat sich Vera letztes Jahr eines Tages beim Spielen im Hof auf die Fußspitzen gestellt; nicht auf den Fußballen, sondern ganz auf die Spitze ihrer Schuhe. Natürlich musste Nina das auch gleich
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