Die Tänzerin im Schnee - Roman
den sie in ihrer Tasche aufbewahrte, öffnete sie die oberste Schublade. Sie hatte den Brief kein zweites Mal in die Hand genommen, seit sie ihn vor zwei Wochen erhalten hatte. Und selbst da hatte sie ihn nur einmal gelesen, hastig überflogen. Eigentlich neigte sie zu vorschnellen Entscheidungen; es lag in ihrer Natur. Nun aber faltete sie die computergeschriebene Seite langsam auseinander, wobei sie sich alle Mühe gab, nicht auf das beiliegende Foto zu schauen.
Nach gründlichem Nachdenken habe ich mich entschlossen, Ihnen diesen Brief und das beiliegende Foto zu schicken. Vielleicht haben Sie bereits meinen Namen auf dem Absender erkannt, sich vielleicht sogar an meinen ersten Brief erinnert, den ich Ihnen nach unserer kurzen Begegnung vor drei Jahrzehnten geschickt hatte, damals, als ich …
Das Schloss an der Haustür schnappte auf, und die schwere Tür wurde aufgestoßen. »Hallöchen!«, rief Cynthia, die drahtige Westinderin, die jeden Abend vorbeikam, um Nina das Abendessen zu kochen und ihr peinliche Fragen über ihre Körperfunktionen zu stellen; tagsüber arbeitete sie als examinierte Krankenschwester im Massachusetts General Hospital. Nina steckte den Brief und das Foto in den Umschlag zurück, als Cynthia mit dem herzlich-hochnäsigen Akzent ihres Heimatlandes rief: »Wo stecken Sie denn, meine Süße?« Sie nannte Nina häufig »meine Süße«. Nina nahm an, dass Cynthia das irgendwie lustig fand.
»Ich bin hier, Cynthia. Alles in Ordnung.« Nina legte den Umschlag in die Schublade zurück. Wenn sie daran dachte, dass es einmal Zeiten gegeben hatte, in denen sie sich selbst um alles gekümmert hatte, unbeaufsichtigt, ohne die besorgte Hilfe von außen … Seit über einem Jahr musste Cynthia nun schon kommen, sie war die letzte Person, die Nina jeden Abend sah, nachdem sie ihr aus dem Rollstuhl in die Badewanne und zurück geholfen hatte. Cynthia war unbestimmbarenmittleren Alters und hatte einen Freund namens Billy, dessen Terminplan und Verfügbarkeit unmittelbar ihren Essensplan diktierten. An Abenden, an denen sie mit ihm verabredet war, kochte sie weder mit Zwiebeln noch mit Knoblauch, Brokkoli oder Blumenkohl, aus Angst, ihre Haare könnten danach riechen. An den übrigen Abenden waren alle Gemüsesorten erlaubt.
Nina konnte hören, wie Cynthia ihren Mantel aufhängte und ihren kleinen Beutel mit den Einkäufen in die Küche trug. Es war eine furchtbare Situation. Ganz besonders für jemanden wie Nina, die einst so stark gewesen und darüber hinaus noch nicht einmal wirklich alt war. Alle naselang schienen Achtzigjährige heutzutage den Erdball zu Fuß und auf Kreuzfahrtschiffen zu umrunden. Doch Ninas einst so geschmeidiger Körper – nun schaurig versteift – ließ einen derartigen Zeitvertreib nicht zu. Erst heute Nachmittag hatte es sich das Mädchen vom Auktionshaus nicht verkneifen können, zu sagen: »Wie Sie das Tanzen vermissen müssen«, als ihr Ninas geschwollene Fingerknöchel aufgefallen waren. In ihrem Blick hatte sich dieses Entsetzen gespiegelt, das jungen Leuten beim Anblick der Gebrechen alter Menschen immer über das Gesicht huschte.
»Das tue ich«, hatte Nina erwidert. »Jeden Tag. Ich vermisse, wie es sich anfühlt zu tanzen.«
Cynthia rief wieder etwas, drohte damit, von ihrem gesamten Tag zu erzählen, während sie sich forschen Schrittes in ihren weißen Schwesternschuhen dem Arbeitszimmer näherte. Nina verstaute den Umschlag noch tiefer in der Schublade. Mit schmerzenden Knöcheln drehte sie den winzigen Schlüssel im Schloss herum. Zu wissen, dass das Foto nach wie vor da war, machte nichts besser.
Grigori Solodin entdeckte die Anzeige am dritten Tag des neuen Semesters. Er saß gern vor acht Uhr morgens an seinem Schreibtisch, denn um diese Zeit ging es im Institut für Fremdsprachen noch friedlich zu, und die Sekretärinnen waren noch nicht eingetroffen, um das Hauptbüro aufzuschließen. Ein halbes Stündchen herrschte auf den über Nacht ausgekühlten Fluren noch Ruhe, kein Getrampel in dem engen Treppenhaus, dessen Marmorstufen in der Mitte ganz ausgetreten waren. Hier war er lieber als zu Hause, denn an die Stille, diedort herrschte, hatte er sich noch immer nicht gewöhnen können. Früh morgens in seinem Büro konnte Grigori ungestört seine Zeitung lesen und Zigaretten rauchen, ohne dass ihm Evelyn, seine Kollegin, wegen seiner Lunge in den Ohren lag, oder Carla, die Sekretärin, theatralisch die Nase rümpfte und ihn daran erinnerte,
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